Tichys Einblick
Bauernproteste waren erfolgreich

Die Niederlande trauen sich: keine Einwanderung, Kernkraftwerke, Verbrenner, weniger ÖRR

In Deutschland würden viele enttäuschte Wähler das neue Regierungsprogramm sofort übernehmen wollen: Weniger Beamte, niedrigere Abgaben, mehr Freiheit, höheres Tempo, mehr Abschiebungen, weg mit dem Green Deal, dafür Kernkraftwerke. Wird Geert Wilders zum Modell für Deutschland? Von Johannis Wilhelm Friesinger

picture alliance / ANP | Robin van Lonkhuijsen

Sechs Monate nach den Parlamentswahlen erhalten die Niederlande eine neue Regierung: Die Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders, die Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), der Neue Sozialvertrag und die Boer Burger Beweging haben letzte Woche ein Regierungsabkommen vorgelegt. Während jahrelang die Meinung vorherrschte, die politischen Eliten seien gegen Wilders verschworen, spiegelt die neue Koalitionsvereinbarung den Slogan wider, den Geert Wilders mehr oder weniger von Donald Trump übernommen hat: Die Niederlande zuerst.

Frustration bei den Konservativen

Bei der rechtsliberalen VVD hatte man die Nase voll. Nach vier Wahlsiegen unter der Führung von Premierminister Mark Rutte hatte die Partei wenig erreicht. Indem sie mit linken, progessiven und zentristischen Parteien regierte, gelang es ihr nicht, was eine überwältigende Mehrheit der Niederländer seit Jahrzehnten wollte: deutlich weniger Einwanderung. Vergleiche mit Deutschland bieten sich an: CDU und CSU haben sich bislang nicht gegen die rotgrüne Masseneinwanderung gewandt; im Gegenteil, Angela Merkel hat sie massiv befördert. In den Niederlanden allerdings ziehen die Konservativen jetzt Konsequenzen.

Jetzt wird  Rutte weggelobt – er wird wahrscheinlich NATO-Generalsekretär – und der türkischstämmige Dilan Yesilgul-Zegerius als neuer Parteivorsitzender bereitet die Bühne für eine erneute Zusammenarbeit zwischen dem Anti-Einwanderungspolitiker Wilders und der VVD. Yesilgul sagte während des Wahlkampfes, wenn die Linken und die Progressiven die Einwanderung nicht eindämmen wollen, gebe es keine andere Lösung, als mit Wilders zusammenzuarbeiten. Auch das könnte ein Schock für deutsche Politik sein: Vertreter früherer Einwanderergruppen wenden sich gegen die ungezügelt Mssseneinwanderung nach der Methode Merkel.

Dies war für viele im Medien-, Kultur- und Beamtenapparat der Niederlande ein Schock. Aber die Unzufriedenheit war so stark angewachsen, dass Wilders nicht mehr nur die alteingesessene Arbeiterklasse zu seinen Wählern zählen konnte, sondern auch die Mittelschicht. Und das mit besonderem Augenmerk auf die starke Unterstützung aus der Ecke der früheren Einwanderer aus den ehemaligen niederländischen Kolonien, Juden, Schwule und sogar Niederländern mit türkischen Wurzeln, die den langen Arm des türkischen Präsidenten Erdogan fürchten.

Ganz anders als AfD und FN

Wilders bedarf einiger Erklärungen, da er leicht als Rechtspopulist dargestellt wird. Doch mit der AfD in Deutschland und dem RN in Frankreich hat er  nicht in allen Fällen Gemeinsamkeiten. Wilders steht entschieden auf der Seite Israels im Gaza-Konflikt, tritt für Homosexuelle ein und für einen starken Sozialstaat. Er ist absolut nicht rassistisch, auch wenn ihm das ähnlich wie der AfD unterstellt wird. Die PVV-Fraktion hat farbige Mitglieder. Wilders ist jedoch ein entschiedener Gegner des Islam. Er sieht den Islam als eine politische Ideologie, die die Trennung von Kirche und Staat nicht akzeptiert. Wegen dieser Ansicht wurde Wilders 20 Jahre lang schwer bewacht und lebte regelmäßig in Kasernen, weil er nur dort sicher war. In den Niederlanden ist nicht vergessen, dass Pim Fortuyn im Jahr 2002 von einem Tierschützer ermordet wurde. Der äußerst populäre Fortuyn verfolgte in etwa die gleichen Ziele wie Wilders.

Wilders ähnelt – wie Fortuyn – in vielerlei Hinsicht einem altmodischen Sozialdemokraten, der noch vor wenigen Jahrzehnten die gleichen Ansichten wie Wilders vertrat. Damals war es nicht der Islam, sondern das Christentum, das angegriffen wurde.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass ein so altmodischer Sozialdemokrat wie Ronald Plasterk von Wilders gebeten wurde, neuer Ministerpräsident zu werden. Wilders selbst verzichtete auf das Amt des Ministerpräsidenten, da seine neuen Koalitionspartner nicht wollten, dass er dieses Amt bekleidet. Ein kleines Land wie die Niederlande kann es sich kaum leisten, einen Ministerpräsidenten zu haben, der zumindest die Regierungschefs der halben Welt und des mächtigen Nachbarn Deutschlands vor den Kopf gestoßen hat.

Ein altmodischer Sozialdemokrat als Ministerpräsident

Ronald Plasterk ist seit 46 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Arbeit (PvdA). Seit den 1990er Jahren bringt er seine Unzufriedenheit mit dem Kurs seiner Partei zum Ausdruck, der weg von der Verteidigung der Interessen der Arbeiter- und Mittelklasse hin zu einer immer grüneren und wütenderen Green-Deal-Agenda führt. Plasterk ist ein berühmter Molekularbiologe, der mit DNA-Forschung in Kalifornien und Cambrigde/England Weltruhm erlangte. Danach wurde er Parlamentsabgeordneter, kritisierte die Abwanderung nach Südeuropa und wurde Bildungsminister unter Mark Rutte. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik gründete er seine eigenen Unternehmen zur Erforschung von Genmutationen und Impfstoffen. Diese verkaufte er für viele Millionen. Mit seiner Kolumne in der größten niederländischen Zeitung, De Telegraaf, erfreute er sich großer Beliebtheit und blieb stets ein politischer Faktor.

Der brillante Plasterk, noch immer Mitglied der Arbeiterpartei, soll ein Programm umsetzen, das ihm aus dem Herzen spricht. Die vier Koalitionsparteien wollen die strengste Asylpolitik aller Zeiten einführen. Außerdem sollen vier Kernkraftwerke gebaut werden, die Steuern und die Kosten für die private Gesundheitsfürsorge gesenkt, auf den Autobahnen wieder 130 km pro Stunde gefahren werden dürfen (jetzt: 100 km), Landwirte nicht mehr zwangsweise aufgekauft werden können, um EU-Stickstoffvorgaben zu erfüllen, Entwicklungsgelder vor allem für Afrika um 2,4 Milliarden Euro gekürzt werden, neue Milliarden Euro flißen in Armee und Polizei fließen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sein Budget um 15 Prozent kürzen. Beamtenstellen sollen stark abgebaut werden, wer arbeitet, soll mehr verdienen. Die Eigenheimzulage bleibt, Gasheizungen bleiben erlaubt und Elektroautos werden gleich besteuert wie Autos mit Verbrennungsmotor.

Wilders noch beliebter

Dieses Programm atmet Wilders‘ Slogan ‚Niederländer zuerst‘. In den Umfragen kommt Wilders jetzt auf 50 Sitze, ein Drittel der Gesamtzahl. Seine Popularität ist und bleibt immens, trotz eines sechsmonatigen Ringens für eine Mehrheitskoalition und das Regierungsprogramm.

Auch die Unterstützung für die neue Regierung ist bemerkenswert hoch. Nach 13 Jahren Mark Rutte war der Großteil der Niederlande zynisch gegenüber Den Haag geworden. Von dort wurden nur noch Botschaften ins Land geschickt, dass viele Dinge nicht erlaubt sein sollten – Gasheizungen, Fleisch, schnelles Autofahren und so weiter, um das Klima zu retten – während man sich in Den Haag bei Einwanderung und anderen großen Themen hinter Brüssel versteckte. Und ansonsten gab es in den Rutte-Regierungen immer irgendeine Partei, die es unmöglich machte, populäre Maßnahmen wie die Begrenzung der Einwanderung zu ergreifen.

Marktstand mit Poffertjes

Ob Wilders und seine Koalitionspartner das umsetzen können, was sie wollen, hängt nur von einer Sache ab: Können die vier Regierungsparteien bis 2027 miteinander auskommen? Wilders‘ Partei ist eigentlich keine Partei und hat nur ein Mitglied: Geert Wilders. Viele seiner Abgeordneten sind zu ihrer Überraschung gewählt worden. So wurde zum Beispiel eine Frau, die einen Marktstand hat, an dem sie Blätterteiggebäck verkauft, plötzlich Abgeordnete – über Poffertjes führt der Weg ins Parlament.

Und der Neue Gesellschaftsvertrag ist eine Abspaltung von der langjährigen christdemokratischen Machtpartei CDA. Nieuw Sociaal Contract (eine neue Partei mit 20 Sitzen) punktete durch die Popularität des Parteivorsitzenden Pieter Omzigt aus Enschede. Aber Omzigt ist ein emotionaler Mann, der sich schnell betrogen fühlt. Auch seine Abgeordneten sind teilweise Neulinge in der Politik.

Die „Boer Burger Beweging“ (Bauernbewegung) will die niederländischen Landwirte vor dem Ruin bewahren, indem sie die strengen Umweltvorschriften ignoriert oder in Frage stellt. Die BBB unter der Führung von Caroline van der Plas ist mit 20 von 75 Sitzen die größte Partei im Senat und hat sich bisher als einigermaßen stabil erwiesen. Letztlich hat sie auch die Bauernproteste in Deutschland befeuert und zeigt jetzt, dass es nicht nur um billigeren Diesel, sondern um ein freiheitliches Lebensmodell geht. Und Yesilguls VVD, die 1948 gegründete rechtsliberale Partei, dürfte angesichts ihrer reichen politischen Erfahrung zumindest stabil sein.

Persönliche Beziehungen

Der größte Streitpunkt könnten die Finanzen sein. Die VVD und der Neue Sozialvertrag stehen für solide Staatsfinanzen. Die Niederlande haben eine Staatsverschuldung von 48 Prozent des Bruttosozialprodukts. Das ist relativ gesehen sehr niedrig und Yesilgul und Omtzigt schätzen dies. Wilders und Van der Plas finden es etwas weniger problematisch, die Staatsverschuldung steigen zu lassen. Da keine der beiden Parteien höhere Steuern will, wird es bei enttäuschenden Staatseinnahmen – und die Wirtschaft wächst kaum – sofort zu Spannungen kommen.

Persönliche Beziehungen sind in der niederländischen Politik sehr wichtig. Wenn die Leute einander mögen, können scheinbar ideologisch entgegengesetzte Politiker jahrelang stabil regieren. Oft zur Überraschung von Nicht-Niederländern. Während der Koalitionsverhandlungen erwies sich die Atmosphäre zwischen den Protagonisten als alles andere als gemütlich. Wilders und Van der Plas kommen gut miteinander aus, aber Omtzigt ist nicht gerade ein gemütlicher Typ. Yesilgul ist ein bisschen dazwischen.

Wenn nur ein geringer finanzieller Druck auf die neue Regierung ausgeübt wird, wird es davon abhängen, ob die Regierung Wilders/Yesilgul/Omtzigt/Van der Plas die altmodische sozialdemokratische Agenda von Ministerpräsident Plasterk verwirklichen kann.

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