Sogar eine Wahrsagerin wurde nach dem Ausgang dieses Politkrimis befragt. Die national bekannte und anerkannte Liesbeth van Dijk hatte sich schon vor einiger Zeit geäußert und ein Expertenkabinett vorausgesagt, das sich aber nicht formieren werde. Nun sagte van Dijk zwar, dass sie ihre Glaskugel zu Hause gelassen habe, korrigierte aber ihre frühere Deutung dahin, dass diese Regierung nicht lange bestehen werde: „Ich gebe ihnen ein knappes Jahr.“ Außerdem werde es viel Streit geben, aber das sei eben unsere Zeit. Jeder denke nur noch an sich, sei permanent im Sendemodus, niemand hört mehr irgendjemandem zu. So sieht van Dijk die generellen Problemen.
Die Viererkoalition ist noch nicht von solchem Streit betroffen, auch wenn man einen Premier Ronald Plasterk nicht erreichen konnte. Es scheiterte anscheinend wirklich an der Patentgeschichte Plasterks, was vor Augen führt, wie genau Spitzenpolitiker in den Niederlanden unter die Lupe genommen werden. Plasterk hat sich nach eigenem Dafürhalten nichts zu Schulden kommen lassen.
Nun werden die abenteuerlichsten Varianten diskutiert, mit Kandidaten aus fast allen Parteien von der christdemokratischen CDA bis zur sozialdemokratischen PvdA (der auch Plasterk angehört), von der rechtsliberalen VVD bis zur rechtspopulären Neugründung JA21. Ein Plan besagt, dass das gesamte Kabinett Ende Juni feststehen soll. Die Parteivorsitzenden hüllen sich naturgemäß in Schweigen. Man hat Zeit.
In Deutschland wäre längst Panik ausgebrochen
Es sind Koalitionsvorbereitungen ohne Schaum vor dem Mund, ebenso in den Reihen der Koalitionspartner wie auch (meist) bei der Opposition. Eindeutige Ausnahmen gab es etwa, als der Volt-Abgeordnete Laurens Dassen – laut der ausführlichen Debattenmitschrift im Algemeen Dagblad – von der PVV als „rechtsextremer Partei“ sprach und der Parlamentspräsident Martin Bosma (PVV) genervt das Gesicht abwandte. Seit letztem Dezember ist Bosma Vorsitzender der Zweiten Kammer.
Rob Jetten (D66) befragte PVV-Chef Wilders dagegen mit großer Höflichkeit, gratulierte ihm zunächst zu einer Kette von Erfolgen – vom Wahlsieg angefangen über den Gewinn der VVD als Partner bis zum positiven Abschluss der Koalitionsgespräche –, um Wilders dann nach „Verbesserungsmöglichkeiten“ in der gegenwärtigen Lage zu fragen. Wilders fand am Ende auch Jetten einen „sauren Linken“, aber erwiderte (einstweilen) im Scherz, dass er ja selbst von seinem Parteiamt zurücktreten und Fleur Agema zur Vorsitzenden machen könne, um dann als Premierminister anzutreten. Die vier Parteivorsitzenden hatten vereinbart, dass sie selbst im Parlament verbleiben.
Und so würde wohl Pieter Omtzigt, Vorsitzender der Partei „Neuer Gesellschaftsvertrag“ (NSC), etwas dagegen haben, so Wilders weiter. Omtzigt sagte hier lachend etwas wie „Ich schaue jetzt nach vorne“, was Wilders seinerseits erfreut zur Kenntnis nahm: „Ich schaue noch zurück, Omtzigt schaut schon voran…“ So, könnte man sagen, geht pragmatisches Regieren im westlichen Nachbarland. In Deutschland wäre längst eine Massenpanik ausgebrochen: Eine Regierung ohne Regierungschef? Na, das fängt ja gut an und wird nicht lange weitergehen… In den Niederlanden gibt man sich dem Fluss der Dinge hin und scheint guten Muts, dass am Ende etwas Ordentliches dabei herauskommt.
Auch das EU-Dosenpfand soll fallen
Die Vorsitzende der rechtsliberalen VVD Dilan Yesilgöz verbat sich indirekt die Kritik ihrer französischen Schwesterpartei, der Macron-Partei Renaissance. Auf eine Frage von Laurens Dassen von der links-liberalen D66 antwortete sie: „Wir definieren uns nicht über die Personen, mit denen wir zusammenarbeiten. Unsere Grundprinzipien, die wir vom ersten Tag an kommuniziert haben, sind in der Rahmenvereinbarung festgehalten.“ Also im Koalitionsvertrag.
Es scheint übrigens vernünftig, dass die vier Parteien nur ein schlankes „Rahmenprogramm“ entworfen haben, keinen Spiegelstrich-Salat wie die deutsche Ampel, der dann doch nicht zum Tragen kommt. Die konkrete Regierungsführung wird in vielen Fällen ja doch spontan entschieden und sollte dann nicht von theoretischen Vorgaben belastet sein. Übrigens will man möglichst auch das Pfand auf Dosen und Flaschen wieder abschaffen, das erst letztes Jahr auf Dosen erweitert wurde – auch wenn das nicht im Rahmenabkommen steht und die niederländische Bürokratie schon vor Streit mit Brüssel warnt.
Hälfte des Kabinetts soll von außen kommen, auch der Premier
Über die kommende Regierung teilte Pieter Omtzigt im Parlament, auf Frage des Chefs der Einheitsfraktion von GroenLinks und PvdA Frans Timmermans, mit: „Die Hälfte der Minister kommt von außerhalb. Die vier Parteivorsitzenden bleiben im Repräsentantenhaus. Und es wird einen Premierminister von außen geben. Es gibt keine Koalition, die gebildet werden kann, wenn es keine Vereinbarungen über die Finanzen gibt.“ Eine Mehrheitskoalition bleibt es natürlich schon, auch wenn ein (halbes) Expertenkabinett in den Vordergrund gestellt wird. Omtzigts erst im letzten August gegründete NSC will sich vor allem für eine gute öffentliche Verwaltung, auch für soziale Belange einsetzen. Der Parteigründer war zuvor in der christdemokratischen CDA.
Laut Omtzigt werden Parteien und Abgeordnete aufgrund des „außerparlamentarischen Charakters“ der Regierung in ihrem politischen Handeln freier sein. Das zeigt, dass sich der NSC-Chef dann doch eine lockere Anordnung wünscht, in der er die Regierung als Parlamentarier kritisieren kann. In der Verfassung finde sich nichts zu „Oppositions- und Koalitionsabgeordneten“. Das Expertenkabinett unter Leitung eines Premiers, der „von außen“ kommt, könnte man also als Belebung der niederländischen Demokratie verstehen, die schon jetzt sehr viel lebendiger erscheint als zumindest ihr deutscher Gegenpart.
Außerdem kündigte Omtzigt an, dass es einen Minister für Migration geben wird, also einen Spezialisten für dieses anspruchsvolle Thema. Bei der Entwicklungshilfe sollen 2,5 Milliarden Euro eingespart werden. Frans Timmermans findet das „moralisch fragwürdig“.
Eigenständige Rolle des Parlaments wird gestärkt
Daneben entfährt Omtzigt irgendwann ein beiläufiges „Leider sind wir in der Europäischen Union“, was sofort von Jetten (D66) aufgespießt wird. Omtzigt erwidert, dass dies kein Versprecher war, aber dann eben doch, wenn man daraus verstehen wolle, dass er, seine Partei oder gar die Koalition den Nexit wolle. „Nein! Ich meine, ja!, wir wollen keinen Nexit.“
Omtzigt gab sich aber überzeugt, dass es möglich sein müsse, „Pläne mit Brüssel neu zu verhandeln“, etwa im Bereich der Agrarpolitik. Was den Asyl-Opt-out angeht, bemerkt auch Omtzigt, dass dieses Vorhaben am längsten dauern werde, weil es eine Vertragsänderung erfordere. Zuletzt will der NSC-Chef auch an den Nettozahler-Status der Niederlande ran und quasi die Thatcher-Handtasche auspacken: „Die Niederlande sind ein Nettozahler der EU, und wir glauben, dass man etwas dagegen tun kann. Ja, wir glauben, dass wir in Brüssel härter verhandeln können.“ Zehn Milliarden Euro waren die Einzahlung der Niederlande in die Gemeinschaftskasse im Jahr 2022 laut dem staatlichen Rechnungshof.
Am heftigsten attackiert Frans Timmermans den PVV-Chef Wilders, als er ihm vorwirft, er habe immer „die Institutionen angegriffen, die dieses Land unterstützen“, etwa auch die Zweite Kammer als „Scheinparlament“ bezeichnet. Wilders greife die „Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats an“. Nur gut, dass Timmermans die letzten Jahre als EU-Kommissar für Klimaschutz verbracht hatte, in jenem vor Demokratie-Affinität und Rechtsstaatlichkeit strotzenden Gremium EU-Kommission. Auch Wilders sah diese Ausführungen eher als die Kritik eines „sauren Linken“, was eine seiner Standardformeln im Kampf mit dem politischen Gegner ist.
Aktuell ist von Timmermans’ „Analyse“ rein gar nicht erkennbar. Im Gegenteil: Durch das geplante Expertenkabinett wird das Parlament künftig wieder eine stärker eigenständige Rolle haben. Die Fraktionen werden weniger als Fortsatz der Regierung agieren, wie es auch in Deutschland längst gang und gäbe ist und die demokratische Gewaltenteilung untergräbt. Wilders aber stellte es dem Ex-EU-Kommissar Timmermans frei „Unsinn zu verbreiten“. So frei ist man im westlichen Nachbarland.