Tichys Einblick
Harter Aufprall in der Realität:

Geert Wilders neue Regierung – ein Beben für die EU und Vorbild für Deutschland?

Geert Wilders Regierungsbildung in den Niederlanden mit ihrem radikal anti-immigrationistischen Programm hat die EU kalt erwischt. Auch Bürger - seit Jahren gegen "Rechtspopulisten" eingeschworen - dürften nun ernste Fragen stellen – auch und vor allem in Deutschland und Frankreich.

IMAGO / ANP

Nach sechsmonatigem Warten scheint zumindest der Koalitionsvertrag der neuen niederländischen Regierung zu stehen: Die Vier-Parteien-Allianz zwischen Geert Wilders’ „Partei für die Freiheit“ (PVV), der Partei „Neuer Gesellschaftsvertrag“ (NSC), der „Bauern-Bürger-Bewegung“ (BBB) und nicht zuletzt der liberalen Partei „Freiheit und Demokratie“ (VVD) des scheidenden Premiers Mark Rutte einigte sich auf einen Koalitionspakt mit dem emotionalen Titel „Hoffnung, Mut und Stolz“. Der Text ist zwar nur 26 Seiten lang, doch er kündigt ein wahres politisches Beben in ganz Europa an, das auch für die anstehenden EU-Wahlen überaus folgenreich sein könnte, und das aus mehreren Gründen.

Zunächst einmal die bloße Tatsache, daß es Geert Wilders nach vielen Jahren des stetigen Anrennens gegen die Mauern des sogenannten „Parteienkartells“ überhaupt endlich gelungen ist, in eine Regierung einzusteigen und einen nicht unwesentlichen Teil seiner eigenen politischen Vorstellungen in die Tat umzusetzen: Damit ist nach Belgien, Österreich und Italien in einem vierten europäischen Kernland der berühmte „Cordon Sanitaire“ aufgebrochen. Und mehr noch: Daß Wilders nicht darauf warten mußte, eine (demokratisch in den Niederlanden ohnehin so gut wie unmögliche) absolute Mehrheit zu erzielen, sondern er eine Koalition mit anderen Zentristen und Mitte-Rechts-Parteien eingehen konnte, ja er sogar den scheidenden Premierminister Rutte zur Beteiligung seiner liberalen Partei an der neuen Koalition bewegen konnte, ist aus gegenwärtiger europäischer Perspektive ein wahrer Dammbruch.

Die neue niederländische Regierung dürfte daher wohl in Zukunft als wichtiger Präzedenzfall betrachtet werden, wenn auch in anderen Staaten sogenannte „Rechtspopulisten“ endlich eine demokratische Regierungsbeteiligung fordern und darauf verweisen können, daß selbst in den Niederlanden die Welt „nicht untergegangen“ ist. Ungarn, die Slowakei, Italien, Finnland, Schweden, die Niederlande (und bis vor nicht allzu langer Zeit auch Polen, Österreich und Belgien): Es wird bald schwer, sogenannte „Rechtspopulisten“ in europäischen Regierungen weiterhin überzeugend zu angeblichen „Totengräbern“ der Demokratie zu stilisieren. Und wenn jene verschiedenen Parteien sich auch in wichtigen Fragen weit voneinander unterscheiden (Wilders ist zum Beispiel, um nur einige Punkte zu nennen, marktliberal, pro-atlantisch, pro-israelisch und sehr offen für LGBTQ-Rechte), so dürfte es doch immer aussichtslos werden, ihre Wähler allesamt zu Proto-Nazis zu stilisieren.

Dazu gehört auch der ebenso mutige wie listige Schachzug Wilders, selbst nicht direkt in das Kabinett einsteigen zu wollen, das mit reinen „Fachleuten“ besetzt werden soll, und zum Premierminister wohl den Sozialdemokraten Ronald Plasterk zu küren – eine kluge Strategie, um auf der einen Seite eine allzugroße Verantwortung für ein mögliches Scheitern der Regierungspläne von sich weisen und auf der anderen Seite seine uneigennützige Sorge für das Land in den Vordergrund spielen zu können: zumindest institutionell eine „Entdämonisierung“ reinsten Wassers.

Kein Wunder also, daß seitens der „Renew Europe“-Gruppe im EU-Parlament, der neben Rutte auch Macron angehört, schon fast hysterische Töne zu vernehmen waren und eine Krisensitzung einberufen wurde, um die niederländischen Liberalen für ihre Koalition mit den Rechtspopulisten abzustrafen – eine Haltung, die in den Niederlanden selbst, die ja bereits 2005 mit deutlicher Mehrheit gegen die EU-Verfassung gestimmt hatten, wohl kaum größere Sympathie mit Brüssel sorgen wird.

Doch auch inhaltlich hat es der Koalitionsvertrag des „rechtesten Kabinett jemals“ (so die Zeitung „Volkskrant“) in sich und ist alles andere als eine weichgespülte Kompromittierung der ursprünglichen Zielsetzungen der PVV, auch wenn die extremsten Forderungen – etwa ein Verbot des Korans und des Neubaus von Moscheen – diskret abgeräumt worden sind. Was übrigbleibt, liest sich „radikal“ genug, zumindest aus deutscher Perspektive, denn was in den deutschen Medien als „rechtsextrem“ tituliert wird, ist in den meisten Nachbarländern längst ein Synonym für „alternativlos“.

So wird im Koalitionspapier offen formuliert, die Niederlande bräuchten jetzt „das strengste Asylregime und das umfassendste Paket zur Kontrolle der Migration, das es je gab“, und die Ausführungsbestimmungen entsprechen dem vollumfänglich. Alle Arten von Migration sollten unverzüglich und auf lange Sicht hin massiv ausgebremst werden; selbst außereuropäische „Studenten“ – ein beliebter Vorwand zur legalen Einwanderung – sollten kaum noch in die Niederlande gelangen dürfen.

Diese Maßnahmen schließen ein „Einfrieren“ von Asylentscheidungen ein, die Einführung rein temporärer Asylgenehmigungen, die nötigenfalls „zwangsweise“ Abschiebung illegaler Migranten, die Rücknahme prioritärer Behandlung von Asylanten bei der Vergabe von Sozialwohnungen, die verschärfte Überwachung der Grenzen, die Abschaffung der obligatorischen Familienzusammenführung, die Reduzierung des automatischen Rechtsbeistands für Asylanträge, usw. Und um den sogenannten europäischen „Asylkompromiß“ zu umgehen und die Asylwende nicht durch Brüsseler Quoten aufgeweicht zu sehen, soll auch eine Ausstiegsklausel aus der europäischen Migrationspolitik vorgelegt werden.

Die Asylpolitik ist aber nicht das einzige Feld, auf dem die neue Regierung sich auf Kollisionskurs mit Brüssel begibt: Auch in der Energie-Politik wurde der Weiterbau zweier begonnener und der Neubau von zwei weiteren Kernkraftwerken beschlossen; sehr zum Ärger der deutschen „Ampel“, der es in den letzten Monaten der Tusk-Regierung gelungen war, die polnischen Pläne zum Bau erster Kernkraftanlagen jenseits der Oder erfolgreich zum Abbruch zu bringen und den neuen Warschauer Trabanten auf „erneuerbare“ Energien einzuschwören. Auch die Kohlenstoffemissionen sollen in den Niederlanden weniger als bislang geplant reduziert werden, wenn Wilders auch seine bisherigen Versprechungen, „alle Klima-Maßregeln sofort durch den Schredder zu ziehen“, nicht aufrechterhalten konnte.

Schließlich soll die verhaßte Eigenbeteiligung an der Krankenversicherung ab 2027 halbiert, private Verschuldung abgebaut, Kindertagesstätten für arbeitstätige Eltern quasi kostenlos gemacht, die Einkommenssteuer gesenkt und jährlich 100.000 neue Wohnungen gebaut werden – ein massives Sozialprogramm, das finanziert werden soll durch radikale Einsparung von bis zu 14 Milliarden Euro, darunter wesentlich im Sektor der Entwicklungshilfe, der Regierungsgehälter und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Und der deutsche Leser, dem trotz chronisch verstopfter und wegen Reparaturen gesperrter Autobahnen die Herabsenkung des Tempolimits ein wesentliches Lebensleiden darzustellen scheint, wird nicht zuletzt die Niederländer dafür beneiden, daß die frühere Senkung auf 100km/h nun rückgängig gemacht und das Tempolimit auf 130 km/h festgelegt werden soll.

Abschließend wollen wir noch darauf hinweisen, wie bedeutsam in Zukunft die Tatsache sein wird, daß die Niederlande ein wichtiger europäischer Nettozahler sind und zudem zusammen mit den Skandinaviern regelmäßig die stetige Ausgabensteigerung der EU mitsamt der Transformation in eine Schuldenunion ausgebremst haben. Dies bedeutet – ganz im Gegenteil zu Polen, der Slowakei, Griechenland, Ungarn und letztlich auch Italien –, daß die Niederlande für Erpressungen aus Brüssel weitgehend immun sind. Natürlich wäre es naiv zu glauben, ein Land, dessen Wirtschaft so vollkommen auf die Integration in den europäischen Binnenmarkt gegründet ist, könne es sich erlauben, notfalls einfach aus der EU „auszusteigen“ – und das Beispiel des Brexit hat zur Genüge gezeigt, daß selbst eine solche neugewonnene Autonomie sogar im Falle der britischen Inselwirtschaft nur recht wenig faßbare positive Konsequenzen nach sich gezogen hat.

Trotzdem ist nicht unwichtig, daß die Niederlande nicht bereits mit der niederschwelligen Drohung von „Sanktionen“ in die Ecke gedrängt werden können, da die EU durch den zu erwartenden Rückzug der niederländischen Einzahlungen mehr verlieren als gewinnen würde. Insgesamt dürfte die EU daher durch die neue Regierungsbildung in den Niederlanden kalt erwischt worden sein, und auch der europäische Bürger, der seit Jahren überall darauf eingeschworen worden ist, in einer Regierungsbeteiligung sogenannter Rechtspopulisten das Ende der Welt zu erblicken, dürfte sich nun ernste Fragen stellen – auch und vor allem in Deutschland und Frankreich. Freilich zählt es seit jeher zu den Problemen der sogenannten „Euroskeptiker“ (die man besser EU-Skeptiker nennen sollte), aufgrund ihrer Haltung weniger Wähler für EU-Wahlen als für nationale Wahlen mobilisieren zu können, wie gerade in den letzten Tagen anhand der AfD-Wahlumfragen so überaus deutlich wird. Trotzdem wird die Entscheidung der Niederlande in den Brüsseler Korridoren und Hinterzimmern ernste Zukunftsängste auslösen.

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