Der Machtwechsel in Polen ist vollzogen. Am Vormittag hat Staatspräsident Andrzej Duda die neue Regierung des früheren EU-Ratspräsidenten Donald Tusk vereidigt. Zuvor hatte der polnische Premier angekündigt, dass die Entscheidungsträger in Brüssel die eingefrorenen Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds alsbald freigeben würden. Tusk war bereits von 2007 bis 2014 polnischer Ministerpräsident. Damals konnte er tatsächlich noch behaupten, er führe eine „christdemokratische“ Koalition an, ist sie doch mit einem konservativen Programm angetreten, das der Regierungschef stets unverdrossen als „wegweisend“ pries. Und heute?
Das nach der Parlamentswahl im Oktober vorgestellte „Dreierbündnis“ aus der Bürgerkoalition, der Neuen Linken und des Dritten Wegs besteht in Wirklichkeit aus vielen Splitterparteien. Dass Tusk in der laufenden Legislaturperiode vor allem damit beschäftigt sein wird, der Erosion seines Kabinetts entgegenzuwirken, wurde bereits bei der Unterzeichnung des gemeinsamen Koalitionsvertrags deutlich. Wer dieses Dokument gelesen hat, wird unweigerlich feststellen, dass es erschreckend wenige konkrete Details enthält. Auch nach der ersten Regierungserklärung von Donald Tusk wissen wir im Grunde genommen noch nicht, was zu den Kernanliegen seiner Regierung gehört (von der wiederholt hervorgehobenen Pflege eines „stolzen Gemeinschaftsgefühls“ einmal abgesehen).
Andererseits sind zahlreiche Wahlkampf-Versprechen der Regierungspartei PO im Koalitionsvertrag nicht mehr enthalten. Donald Tusk erklärte angesichts der aktuellen Entwicklung in der (ebenso von der PiS stiefmütterlich behandelten) Wohnungspolitik die Erhöhung des Wohnungsangebots zu seinem hauptsächlichen Ziel. Was hat er konkret vor? Wie möchte er es finanzieren? Der polnische Premier sprach bisweilen von einer „Null-Prozent-Finanzierung“, wurde jedoch unverzüglich von seinen linken Koalitionspartnern zurechtgewiesen. Als dessen Vorgänger Mateusz Morawiecki vor einigen Tagen seine Abschiedsrede im Sejm hielt, ist er minutiös auf sein Regierungsprogramm eingegangen. Nach der gescheiterten Vertrauensfrage bestach er durch fachkundiges Wissen, jedoch gleichfalls durch Einfachheit, wenn er zum Beispiel zugeben musste, dass die endgültige Einlösung einiger seiner Versprechen ausgeblieben war. Es will scheinen, dass die neue und ideologisch höchst heterogene Regierung manche Probleme gar nicht erst thematisieren möchte.
Stattdessen gab es bereits vor der Regierungsbildung einen handfesten Skandal. Ein fragwürdiger Gesetzesentwurf des neuen Kabinetts zum Einfrieren von Strompreisen für das kommende Jahr schlug hohe Wellen. Die konservative Opposition behauptet, er sei für einflussreiche „Windkraft-Lobbyisten“ in der EU verfasst worden. Das Gesetz wäre nicht im Sejm entstanden und sei ein „Vorgeschmack“ auf den künftigen Regierungsstil von Donald Tusk, so Morawiecki. Es gewähre nicht nur den Bau von Windkraftanlagen in 300 Metern Entfernung von Wohnhäusern, sondern führe unweigerlich zu Enteignungen sowie potenziellen Gefahren für das Stromversorgungssystem.
Ähnliches gilt gleichermaßen für das polnische Justizwesen und die öffentlich-rechtlichen Medien. Tusk hatte im Wahlkampf und während seiner Regierungserklärung immer wieder betont, dass die „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ in Polen in den letzten Jahren in den Fokus der europäischen Öffentlichkeit gerückt seien. Die PiS-Regierung habe versucht, die Justiz unter ihre direkte Kontrolle zu bringen und deren Unabhängigkeit „auszuhöhlen“. Damit werde die Gewaltenteilung und das Gleichgewicht der Kräfte im Staat bedroht. Auch hier haben wir es ausschließlich mit nichtssagenden Gemeinplätzen zu tun. Was möchte der neue Regierungschef verändern? Möchte er lediglich unbequeme Richter austauschen oder tatsächlich die Effizienz der polnischen Gerichtsbarkeit steigern? Wenn ja, wie? Jeder unüberlegte Frontalangriff würde ohnedies vom Staatsoberhaupt blockiert werden. Und wird der wieder ins Amt gehievte Chefdiplomat Radek Sikorski seiner Aufgabe gerecht? Ein polnischer Außenminister, der die USA für den Nord-Stream-Leck verantwortlich macht, wird in Zeiten des Ukraine-Kriegs sogar von PO-Wählern harsch kritisiert.
Weitaus problematischer erscheint jedoch die ideologische Dimension der neuen Regierung. Auch diesbezüglich erhalten wir nur spärliche Informationen, wobei die ersten Ankündigungen alles andere als beruhigend sind. Die Entscheidung Tusks, das Bildungsressort sowie das Forschungsministerium ausschließlich in den Händen der Neuen Linken zu belassen, wird kaum Unterstützung finden in einer Gesellschaft, deren Mehrheit die konservative PiS zum Wahlsieger erkoren hat. Die neue Erziehungsministerin Barbara Nowacka hat nur wenige Minuten nach ihrer Vereidigung von „einschneidenden Veränderungen“ im polnischen Religions- und Geschichtsunterricht gesprochen. Ob dann in der Tat eine ideologische Zensur auf uns zukäme und ob die konservativen Anhänger der PSL in dieser Hinsicht kritiklos mitrudern, bleibt abzuwarten.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass weder der Koalitionsvertrag, noch die Erklärungen des neuen Kabinetts irgendwelche Anhaltspunkte darüber geben, wo Polen eigentlich hinsteuert. In einigen Gesichtspunkten scheint sich der künftige Kurs der neuen Regierung abzuzeichnen, zum Beispiel dann, wenn etwa die frischgebackenen Minister behaupten, dass die unter Mateusz Morawiecki unternommene Politik einer „Renationalisierung“ des polnischen Finanzwesens sowie Energiesektors „schlecht zur pluralistischen Vorstellung einer modernen Gesellschaft passe“. Der einstige EU-Ratspräsident und jetzige Regierungschef Tusk muss sich trotzdem viele Fragen gefallen lassen: Führt die Abschaffung des Vetorechts wirklich zu einem „besseren“ Europa? Werden eventuelle Änderungen der EU-Verträge oder die von Brüssel angestrebte Klima-, Energie-, Migrations- und Sicherheitspolitik tatsächlich von der Mehrheit der polnischen Gesellschaft mitgetragen? Macht uns ein zu stark internationalisiertes polnisches Wirtschafts- und Finanzsystem zu einer „modernen Gesellschaft“ oder doch eher zum Sanierungsfall?
Was sind Tusks Staatsgestaltungsziele? Im Moment wissen wir nur, dass er die innerstaatliche Kontrolle zurückgewonnen hat. Es bleibt jedenfalls nicht uninteressant, auch für den aus dem konservativen Lager stammenden Staatschef. Für Präsident Andrzej Duda werden es gewiss die zwei spannendsten Jahre seiner zweiten Amtszeit.