Noch ist nicht zu erwarten, dass die EU sehr bald zu einer Lösung des Asylproblems kommt. Nur hier und da zeigen sich richtige Ansätze, die allerdings noch eine Mehrheit im Staatenbund brauchen, um von allen durchgesetzt zu werden. Es sei denn, es müssten nicht mehr alle alles gleich machen, wofür es bald auch Beispiele geben könnte. So sah der letzte Entschluss-Entwurf des Rats vor, dass die einzelnen EU-Mitglieder selbst über sichere Drittstaaten in ihrem Umfeld entscheiden können. Angewendet wurde diese Lizenz freilich noch kaum. Sie könnte aber gerade im zentralen und westlichen Mittelmeer gute Dienste leisten. In der Ägäis gibt es schon entsprechende Regelungen, die zu einer Praxis der ausgeweiteten Zurückweisungen (die sogenannten Pushbacks) führen.
Nun geht es erneut um die schnellen Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, auch auf dem Gipfel im Juni beschlossen, die der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) als wegweisend ansieht. Allerdings sät er auch Zweifel an der Ernsthaftigkeit aller Partner in dieser Frage. Im Gespräch mit Welt am Sonntag fordert er von der deutschen Bundesregierung, die von ihr verlangten Ausnahmen zurückzunehmen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und die Berliner Ampel wollen, dass Frauen und Kinder von den Schnellverfahren, die Asylbeantrager ohne Chancen schon in der Nähe der EU-Außengrenze aussieben will, ausgenommen werden.
Frauen und Kinder als Teil der Kettenmigration
Für Nehammer ist diese Forderung „aus polizeilicher Sicht praxisfremd und letztlich auch kontraproduktiv“. Denn sie würde laut dem Bundeskanzler dazu führen, dass „künftig insbesondere Frauen mit Kindern von ihren Verwandten auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer geschickt und skrupellosen Schleppern hilflos ausgeliefert werden“. Nehammer befürchtet, dass diese Ausnahmeregelung „praktisch eine Einladung für Frauen mit Kindern“ wäre , „die illegale Migration nach Europa zu wagen – und im Falle einer Schutzgewährung, die gesamte Familie nachzuholen“.
Bei den beschleunigten Verfahren an der Außengrenze geht es laut der Nachrichtenagentur dts um etwa 25 Prozent aller Migranten – kein zu vernachlässigender Anteil. Hier muss die Regelung also konsequent greifen, um wirklich abschreckende Wirkung auf chancenlose Asylbewerber auszuüben. Die Weichheit der Berliner Position spiegelt einen generellen Unwillen der Ampel zur konsequenten Asyl- und Migrationspolitik.
Gibt es wirklich keine EU-Mehrheit für ein Ruanda-Abkommen?
Die Fingerhakeleien zwischen Wien und Berlin zeigen es: Das neue EU-Asylsystem wird noch einige Zeit auf sich warten lassen. Mit einem Ergebnis ist erst ab Anfang 2024 zu rechnen. Die Wiener Regierung fordert daneben weiterhin, Asylverfahren künftig in Drittstaaten durchzuführen – was bisher keine Mehrheit im Rat der Staats- und Regierungschefs fand, obwohl die theoretisch und denklogisch vorhanden sein müsste. Die Osthälfte der Union müsste, gemessen an nationalen Wahlergebnissen und Regierungsprogrammen für den Vorschlag sein, dazu die „Mittelländer“ Dänemark und Italien, vielleicht (bald) die Niederlande. Es drängt sich also der Eindruck auf, dass zentrale Spieler die Sache blockieren, vermutlich mit „internationalen“ Rechtsvorwänden der Marke: Außerhalb Europas speien Furien Gift und Galle auf die Menschheit nieder. Ein Aufenthalt ist nicht zu empfehlen.
Nehammer verwies auf die Ruanda-Abkommen, die Großbritannien und auch Dänemark bereits weit vorangetrieben oder gar abgeschlossen haben. Österreich stehe in dieser Frage auch in der EU „nicht alleine da“. Der ÖVP-Kanzler stellte die Vorteile dieses Vorgehens dar: „In diesem Fall würden die Migranten erst gar nicht europäischen Boden betreten.“ Bei einem Ablehnungsbescheid könnten sie nicht mehr einfach „in der EU untertauchen oder in mehreren europäischen Ländern gleichzeitig Asylanträge stellen“.
Das sind schon bemerkenswerte Worte, die das EU-Versagen in Sachen Asyl vollkommen offenlegen: Asylbewerber können heute „in der EU untertauchen“ und immer wieder neue Asylanträge stellen, obwohl ja genau das von den EU-Regeln ausgeschlossen wird. Es ist das Erbe der Unordnungspolitik seit 2015. Nehammer will, das muss man ihm wie seinem Vorgänger Sebastian Kurz zugestehen, demgegenüber eine neue Seite aufschlagen. Er will so auch das „Geschäftsmodell der organisierten Kriminalität zerstören und den mörderischen Transport über das Mittelmeer beenden“.
Stamp: Verfahren in Drittländern gegen Tod in Wüste und Meer
In eine ähnliche Richtung weisen auch die Aussagen des Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung für Migrationsabkommen, Joachim Stamp (FDP). Fühlt sich Stamp nun doch auch für Abschiebungen und ein strenges und gerechtes Asylsystem verantwortlich? Er hatte zuletzt die Erwartungen an von ihm ausgehandelte Migrationsabkommen gedämpft – dadurch würden nicht automatisch mehr Abschiebungen gelingen.
Aber dazu bräuchte man ein „Partnerland“. Eines wie Ruanda. Und da wird die Intervention eines Unerwarteten interessant. Gerald Knaus ist Direktor der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative und Advokat des Türkei-Abkommens, das angeblich die illegale Migration über die Türkei dämpfen sollte. Er gilt als einflussreicher Berater verschiedener Bundesregierungen seit Angela Merkel, auch der jetzigen. Laut dts sagte er nun: „Dass Asylverfahren auch in Drittstaaten geprüft werden sollen, steht im Koalitionsvertrag. Dazu müssen sich jetzt alle Ampel-Partner bekennen.“
Ampel-Berater Knaus: Ruanda oder Marokko könnten Verfahren durchführen
Die Vorstellung, dass Asylverfahren grundsätzlich nie ausgelagert werden dürfen, weil das gegen die Menschenrechte verstoße, hält Knaus für falsch und logisch nicht begründbar: „Die Vorstellung, dass ein afrikanisches Land, das Asylbewerber geordnet aufnehmen will, dazu niemals in der Lage sein soll, ist absurd. Natürlich könnte Ruanda, der Senegal oder auch Marokko ein sicherer Drittstaat für Asylwerber sein, wenn es will.“ Alles andere sei „umgekehrter Rassismus“.
Hier lohnt auch ein Blick nach London, wo die britische Regierung bereits einen fertigen Ruanda-Abkommen in der Tasche hat. Allerdings stellten sich die Gerichte des Königreichs quer. Derzeit liegt die Frage beim Obersten Gerichtshof (Supreme Court), dessen Entscheidung im Herbst erwartet wird. Bis dahin wird auch die Regierung der Konservativen mit weiteren Aktionen warten. Für die EU-Länder wäre erst recht mit entsprechenden Urteilen zu rechnen, etwa vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg oder auch vom Europarats-Gerichtshof in Straßburg (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), der noch über die EU hinausgreift.
Gerald Knaus hält dennoch eine Ruanda-Lösung für denkbar, wenn nämlich der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) dort die Verantwortung für die Verfahren übernähme: „Deutschland sollte Ruanda und andere Staaten dabei unterstützen, ein sicherer Drittstaat zu werden.“