Tichys Einblick
Trump und Orbán als heimliche Stars

Nato-Gipfel: Und alle schauen auf Biden

Eigentlich sollte es beim Nato-Gipfel um die Ukraine und die Zukunft des Bündnisses gehen. Doch der Zustand des US-Präsidenten überschattet die Konferenz. Unterschwellig schwingt die Furcht mit, dass Biden unfreiwilliges Symbol des Nato-Zustands geworden ist.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mark Schiefelbein

Über dem 75. Jubiläum der Nato liegt ein doppelter Schatten. Der eine gehört Joe Biden. Weltweit sehen Medien den Auftritt des US-Präsidenten vor der Pressekonferenz als Gesundheitstest an. Einige mögen in seiner Verfasstheit auch einen Zustand des westlichen Bündnisses erkennen. Er ist sechseinhalb Jahre älter als die Nato selbst. Und die Sorge, wie es in Zukunft weitergeht, treibt nicht nur transatlantisch gesinnte Journalisten um.

Der zweite Schatten gehört Donald Trump. Er ist auf dem Nato-Gipfel nicht anwesend, aber doch präsent. Die Tagesschau – aber nicht nur sie – fürchtet eine Schwächung der Nato, sollte der New Yorker ins Weiße Haus zurückkehren. Wer sich nicht an die Regeln hält und zahlt, soll nicht mehr verteidigt werden. Der wohlige Verteidigungsschirm wird zur Last, wenn man nicht mehr umsonst von ihm beschützt wird.

Insofern laufen sich insbesondere die öffentlich-rechtlichen Medien warm: Die USA könnten bei einem russischen Angriff Europa nicht mehr verteidigen. Die Ukraine-Hilfen würden gestoppt. Ohne US-Hilfe würde das ganze Bündnis scheitern. Zudem würde Trump die Ukraine an Russland ausliefern. Sogar über einen Austritt aus der Nato wird da spekuliert. Biden wird als Gegenbild hervorgehoben: er habe nach dem Angriff Moskaus den Beistand Washington zu den Europäern beschworen, Gegenwehr angekündigt, die Reihen geschlossen.

Zur Wahrheit gehört allerdings: ohne die Schwäche der USA, die man auch in einer Andropow-Gestalt wie Biden verkörpert sieht, hätte es diesen Krieg nicht gegeben. Der von Trump geplante, aber von Biden desaströs durchgeführte Abzug aus Afghanistan hat nicht nur Russland ermutigt. Er hat den gesamten Westen als dekadente Zivilisation entblößt. Die Bilder kursierten um den Globus und weckten Erinnerungen an die hastige Flucht aus Saigon. Dazu brauchte es nicht Trump. Das haben Biden und sein Team ganz alleine geschafft.

Während sich im Westen langsam die Erkenntnisse zum Gesundheitszustand des amtierenden Präsidenten als allgemeine Kenntnis durchsetzen, waren sie früher nicht nur in vermeintlich verschwörungstheoretischen Kreisen, sondern auch im außerwestlichen Ausland Thema. Es schwingt also viel ungewollte Symbolik mit, wenn ausgerechnet ein greiser US-Präsident, dessen politische Zukunft unklar ist, in den Geburtsort des Bündnisses lädt.

Doch auch auf europäischer Seite gibt es Veränderungen. In Frankreich, wo Staatspräsident Emmanuel Macron noch kürzlich anregte, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden, dominieren anti-amerikanische Parteien mehr denn je das Parlament; sollte es tatsächlich zu einer Zusammenarbeit mit den Linksradikalen kommen, wird sich der Ton ändern. Und Viktor Orbán, der den Ausgleich mit Kiew, Moskau und Peking sucht, tastet auf seiner Grand Tour die Stationen ab, ob doch nicht Verhandlungen möglichen seien. Er ist, wie Boris Kálnoky beschreibt, zum Gesicht der Europäischen Union avanciert. Die Linken und Grünen mögen schäumen, aber seine Auftritte werden als substanzieller wahrgenommen als das, was bisherige Hohe Vertreter der EU geleistet haben. Und es erscheint naheliegend, dass Orbán als inoffizieller Nato-Unterhändler Optionen austariert, die die Verantwortlichen in der festgefahrenen Ukraine-Situation offiziell nicht wagen.

Orbáns Spruch, China besitze einen Friedensplan, die USA eine Kriegspolitik, und Europa kopiere lediglich das US-Konzept, wird auch auf dem Gipfel mitschwingen. Denn der ungarische Premier fliegt aus Peking direkt nach Washington, um auch dort auf Tuchfühlung zu gehen. Er wird dort eine Minderheitenposition vertreten – die Mehrheit der Nato-Staaten fordert weiterhin Waffen und Munition für den Ukraine-Krieg. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die 32 Mitgliedsländer des Bündnisses hätten seit Kriegsbeginn jedes Jahr rund 40 Milliarden Euro für militärische Ausrüstung für die Ukraine ausgegeben und dies sollte für die Zukunft „ein Mindestgrundsatz“ sein.

Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, wird dort sein – mit dem Anspruch, sein Land endlich ins westliche Militärbündnis zu führen. Mit Sicherheit besitzt er einige Unterstützer. Nach außen hin wird dem Land die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Allerdings kann ein Land im Kriegszustand nicht der Nato beitreten. Das ist eine der vielen Voraussetzungen, die es zu erfüllen gilt. Bereits 2023 hatte man Kiew in Vilnius zu verstehen gegeben, dass die Nato die Mitgliedschaft als verfrüht ansieht. Der Weg mag „unumkehrbar“ sein, aber wie lange dieser Weg ist, will keiner kommentieren.

Fragt sich zuletzt, was es bei dieser unüberschaubaren Gemengelage zu feiern gibt? Die Nato hat den Warschauer Pakt nicht besiegt, er ist in sich zusammengestürzt. Das Afghanistan-Abenteuer, das sie ab 2001 ausführte, muss man als genauso desaströs wie das britische Unterfangen im „Great Game“ bewerten. Bleibt eine „Wertegemeinschaft“, die heute aus Demokratien in Auflösung besteht.

Freilich behält das Militärbündnis seine wichtigste Funktion, die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen am Boden zu halten (Lord Ismay). Ein Zukunftskonzept sucht die Nato seit dem Fall des Eisernen Vorhangs jedoch immer noch fieberhaft. Auch deswegen ist Trump ein Problem: Er denkt wie Orbán außerhalb der traditionellen Nato-Box. Das mag man bewerten, wie man will. Aber ohne Veränderung läuft das Bündnis Gefahr, beim 80. Jubiläum seinem jetzigen Gastgeber ähnlicher zu sein, als man es zugeben will.

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