Die pro-europäische Präsidentin Maia Sandu ist dank der Stimmen der Diaspora wiedergewählt worden, das EU-Referendum gewann sie auch. Aber kann Moldau EU-Mitglied werden, ohne den abgespaltenen, prorussischen Landesteil Transnistrien zu verlieren? Wie funktioniert die Russen-Enklave überhaupt?
Am Ende war es deutlicher, als manche befürchtet hatten. Zum Beispiel Ion Ciobanu, Chef des öffentlich-rechtlichen Radiosenders Radio Moldova. Er drückte zwar Staatspräsidentin Maia Sandu die Daumen zur Wiederwahl, aber „ich habe diesmal ein mulmiges Gefühl”, sagte er vor der Wahl. 100 Kollegen arbeiten bei dem Sender, „die meisten von uns sind für Sandu, aber wir bemühen uns, ein politisch ausgewogenes Programm zu machen”.
Deutliche 55,5 Prozent wurden es am Ende für Sandu, ihr linker, prorussischer Rivale Stoianoglo kam auf 44,6 Prozent.
Es war eine ethnisch gepaltene Wahl, was für die Zukunft Probleme bedeuten kann: Wahlsieger war die rumänischsprachige Bevölkerung, die zusammen mit der Diaspora in westlichen Ländern den Ausschlag gab. Mehrheitlich gegen Sandu stimmten die türkischstämmigen, aber russisch sprechenden Gagausen im Süden, die ukrainischstämmigen, aber ebenfalls russisch sprechenden Moldauer im Norden, sowie die russischstämmigen Bewohner der abgespaltenen Region Transnistrien im Osten.
Man wird wohl nie genau wissen, welche Seite mit welchem Erfolg versuchte, auch mit unlauteren Mitteln Einfluss zu nehmen auf den Wahlvorgang. Die Regierung wirft Russland vor, massenhaft Stimmen für Stoianoglo gekauft zu haben. Die Gegenseite klagt, dass die Regierung prorussische Wähler massiv behindert habe. Beispielsweise wurden für die mehreren Hunderttausend Exil-Moldauer in Russland – die Mehrheit von ihnen prorussisch – nur in der Moskauer Botschaft der Republik Moldau die Möglichkeit gegeben, ihre Stimmen abzugeben. Viele, die kamen, konnten nicht abstimmen, weil die Stimmzettel ausgegangen waren. Die – formal gesehen moldauischen – Staatsbürger im abgespaltenen, prorussischen Landesteil Transnistrien mussten nach Moldau reisen, wenn sie wählen wollten. Aber ein wichtiger Grenzübergang wurde für längere Zeit gesperrt.
Insgesamt gaben von den 375.000 Transnistriern nur weniger als 30.000 ihre Stimme ab.
In Russland lebende Moldauer flogen nach Istanbul und Minsk, um in den dortigen Wahlokalen zu wählen. Die Regierung beschuldigte Russland, diese Flüge organisiert zu haben.
Kurzum, es ging wild zu, aber das Ergebnis ist da: Die Republik Moldau ist nicht nur EU-Beitrittskandidat, sondern hat im EU-Referendum vom 20. Oktober mit einer hauchdünnen Mehrheit entschieden, die EU-Integration im moldauischen Grundgesetz zur Staatsräson zu erklären, und hat eine proeuropäische Führung. Wenn auch die Parlamentswahlen 2025 in diese Richtung weisen, dann wird das Ziel der EU-Integration wohl umgesetzt werden, vielleicht schon bis 2030.
Die größte Frage dabei lautet: Kann die Republik Moldau überhaupt EU-Mitglied werden, ohne dabei die abgespaltene, vorwiegend von russischsprachigen Moldauern bevölkerte sogenannte „Republik Transnistrien” zu verlieren? Sie ist das Ergebnis eines blutigen Krieges zur Wendezeit.
Während des Kalten Krieges war die damalige Sowjetrepublik Moldau Aufmarschgebiet der russischen 14. Armee an der Grenze zu Rumänien (welches damals eine „blockfreie” Außenpolitik betrieb). Dort hortete die Sowjetunion auf der östlichen Seite des Flusses Dnjestr riesige Mengen an Waffen und Munition für den Fall eines Krieges mit der Nato. Als die Sowjetunion zerfiel, erklärte Moldau (oft auch Moldawien genannt) seine Unabhängigkeit und suchte die Nähe zu Rumänien. Viele Moldauer betrachten sich als Rumänen, und heutzutage haben rund eine Million Moldauer auch einen rumänischen Pass.
Das wollte aber die russischesprachige Bevölkerung nicht, und Russland wollte sein militärisches Sprungbrett in Transnistrien nicht verlieren. Mit einem Referendum wurde die Unabhängigkeit der Region ausgerufen, worauf die moldauische Führung mit aktiver Hilfe Rumäniens rasch eine Armee bildete und Transnistrien 1992 angriff. Das scheiterte nach drei Monaten und rund 1500 Toten und Verletzten. Seither gilt ein Waffenstillstand und der Status Quo der Abspaltung.
Wenn nun Moldau in die EU will, Transnistrien aber nicht – wie soll das klappen? Wie funktioniert überhaupt das Land, das von keiner Regierung der Welt anerkannt wird, noch nicht einmal von Russland?
„Wirtschaftlich ist es ein El Dorado für die dortigen Oligarchen”, meint Alexandru Flenchea, der 2019-20 als stellvertretender moldauischer Ministerpräsident für die „Integration” Transnistriens zuständig war und bis heute als einer der besten Experten zu dem Thema gilt.
„Es funktioniert so: Moldau bezieht über die Ukraine Gas aus Russland. Dieses Gas wird auch nach Transnistrien geliefert, aber Transnistrien weigert sich, dafür zu bezahlen.” Rund 10 Milliarden Dollar theoretischer Schulden sind laut Flenchea im Laufe der Jahre zusammengekommen. Moldau versucht einerseits aus politischen Gründen nicht, die Schulden einzutreiben, um den Konflikt nicht wieder eskalieren zu lassen. Andererseits profitiert das Land, weil der größte Teil der Stromversorgung der Republik Moldau von einem Kraftwerk in Transnistrien kommt. Das wird mit dem Gratis-Gas aus Russland betrieben. Der Strom wird dann im Vergleich zu internationalen Marktpreisen recht billig an Moldau verkauft. Also: Moldau liefert unfreiwillig gratis Gas, daraus macht Transnistrien Geld, in dem es Moldau zur Kasse bittet für Strom.
Das Gratis-Gas und der Billig-Strom sind natürlich ein Segen für Unternehmen in Transnistrien, die außerdem keine Steuern zahlen müssen, aber ohne weiteres über Moldau exportieren können – zum Beispiel Kaviar für westliche Märkte.
Keine Steuern? Der überwiegende Teil der Wirtschaft, erzählt Flenchea, gehört direkt oder indirekt zwei Oligarchen, einst KGB-Agenten. Weil sie stolz auf ihre Herkunft als „Polizisten” sind, nannten sie ihren Konzern „Sheriff”. Sie haben, um es vorsichtig auszudrücken, erheblichen Einfluss auf die transnistrische Politik.
All das würde im Falle eines EU-Beitritts wegbrechen.
Und dann ist da die russische 14. Armee, mit immer noch 1500 Soldaten, und das riesige Waffenlager aus dem Kalten Krieg. Will die EU russische Truppen aufnehmen? Würden russische Militärs den EU-Beitritt akzeptieren?
Flenchea sieht kein unlösbares Problem. Er reduziert die militärische Frage auf 70 Personen. „Seit dem Krim-Krieg 2014 haben sowohl Moldau als auch die Ukraine sich geweigert, Personal-Rotation für die 14. Armee über ihr Staatsgebiet zuzulassen”, erklärt er. Die ursprünglichen russischen Soldaten seien mittlerweile überwiegend ausgeschieden. Um die Mannschaftsstärken zu halten, wurden Ortsansässige rekrutiert – russophon, aber keine russischen Staatsbürger.
Das einzige russische Element in der 14. Armee, sagt er, seien „70 Offiziere”. Denen müsste man mit einer Hand die moldauische Staatsbürgerschaft und eine Zukunft anbieten, mit der „anderen Hand auf das Strafgesetzbuch verweisen”, falls sie sich weigern.
Was die Munition und die Waffen betrifft: „Das Material ist so alt, dass es überwiegend unbrauchbar sein dürfte”.
Und schließlich die Oligarchen: „Das sind logisch denkende Menschen. Sie haben jahrelang Milliarden gemacht aus dünner Luft. Man muss ihnen einen Deal anbieten: Ihr Geschäft wird legalisiert, sie können weiter Geld verdienen”. Aber sie würden nicht mehr Millarden scheffeln. „Ihr werdet weiter reich sein, aber statt Milliarden Millionen verdienen”, resümiert Flenchea das Angebot, dass seiner Meinung nach die moldauische Führung den einstigen KGB-Agenten unterbreiten müsste.
So richtig EU-konform klingt es nicht. Aber realistisch.
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