Man stelle sich Rothenburg ob der Tauber vor. Aber am Meer, mit ein paar steinigen Hügeln im Hintergrund und wolkenfreiem Himmel. So in etwa könnte man Symi beschreiben, eine zur Dodekanes gehörende Insel mit gut 3.000 Einwohnern, etwa zwölf Seemeilen nördlich von Rhodos gelegen. Halb so weit ist es bis zur türkischen Küste, die das Eiland tentakelgleich umschließt. Wie auf vielen griechischen Inseln ist das soziale Netz hier noch intakt, der öffentliche Raum heilig und der Zusammenhalt stark. Dank seiner weitgehend erhaltenen Bebauung aus dem 19. Jahrhundert ist Symi außerdem nicht weniger schmuck und erhaltenswert als das deutsche Mittelalterstädtchen.
Doch Anfang Oktober geriet die Insel aus anderem Anlass in die Schlagzeilen: Mehr als 500 Flüchtlinge, zumeist aus Afghanistan, waren hier nach und nach in Schlauchbooten angelandet. Für anderthalb Monate hatte man sich irgendwie eingerichtet, dann kamen an einem Tag 200. Die Inselverwaltung war überfordert. Strukturen für die Aufnahme der Migranten gab es nicht, was zu spontanen Zeltlagern an der Hafenmole und auf den Straßen der Innenstadt führte. Inzwischen saßen 80 der Neuankömmlinge im Gewahrsam der örtlichen Polizeiwache. Das Wort von Aufständen machte die Runde. »Und jeden Tag kommen neue Schlauchboote an, wie Touristen«, so der Bürgermeister des Ortes, der in seiner Verzweiflung sogar die Türken anrief, eine Lösung herbeizuführen.
Auch andernorts hält der Zustrom an: Auf Lesbos, Brennpunkt des Geschehens, landen noch immer hunderte Migranten täglich. In und um das berüchtigte Lager Moria, das eigentlich nur für 3.000 Personen ausgelegt ist, leben inzwischen über 13.000 Asylbewerber (nicht mehr 10.000 wie noch im September). Auch auf Samos, wo 6.000 Migranten in einem für 700 Personen ausgelegten Lager existieren sollen, ist ein Ghetto mit Favelas entstanden. Die Aufnahmelager der Inseln Kos und Leros sind ebenso überfüllt. Von den Inseln werden nun laufend Migranten aufs Festland gebracht, derzeit vor allem in die Nähe von Athen. Auch 398 Zuwanderer aus Symi sind inzwischen nach Eleusis in Attika umgesiedelt worden, während etwa zur gleichen Zeit ein Rettungsschiff der NGO »Open Arms« am Hafen von Symi aufkreuzte. Die aufgebrachten Bürger, die die Einrichtung eines Hot Spots befürchteten, vertrieben den Kapitän kurzerhand von ihrer Insel.
Die Ägäis-Route, Syrien und die Kurden – alles hängt miteinander zusammen
Klar ist, dass es sich bei den Bootsankünften um eine konzertierte Aktion der Türken handelt, die so Druck auf die EU ausüben wollen. Manche der Schlepper nutzen – wie unlängst die »Süddeutsche Zeitung« berichtete – sogar erbeutete (oder willig überlassene?) Luxusyachten. Darunter war angeblich auch die Yacht »Paradiso«, die dem Eigentümer des Fußballvereins Beşiktaş Istanbul gehört. Ein solches Gefährt erleichtert das Übersetzen ins EU-Paradies natürlich erheblich. Das Zusammentreffen der vermehrten Bootslandungen mit dem türkischen Syrien-Feldzug ist dabei kein Zufall, wie inzwischen jeder sehen und hören kann.
Die Bootsmigranten der Ägäis sind heute weit überwiegend Asyleinwanderer, nicht Kriegsflüchtlinge. Die Hälfte der Neuankömmlinge stammt mittlerweile aus Pakistan und Afghanistan und sucht vor allem ein besseres Auskommen, so sagte es nun der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis von der konservativen Nea Dimokratia. Mit ebendiesem Argument begründete er eine härtere Gangart im Umgang mit diesen ›unechten Flüchtlingen‹. Illegal eingewanderte ebenso wie abgelehnte Asylbewerber sollen künftig in geschlossenen Lagern untergebracht werden, von denen zwölf in ausgedienten Kasernen auf dem Festland errichtet werden sollen (sicher nicht zur Freude der unmittelbaren Anwohner).
Die wirtschaftliche Lage des Landes ist noch immer explosiv
Daneben soll die griechische Küstenwache in der östlichen Ägäis deutlich aufgestockt werden. Bis Ende 2020 will Mitsotakis außerdem 10.000 Migranten in die Türkei abschieben. Zudem soll eine Liste sicherer Drittstaaten nach deutschem Vorbild entstehen. Der Aufbau einer leistungsfähigen Asylverwaltung bleibt abzuwarten; hoffen darf man aber bei dem in Fragen der Verwaltungsreform erfahrenen Premier. Durchaus wertvoll – auch für die hiesige Debatte – erscheint, dass die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Asyleinwanderern zur Leitschnur staatlichen Handelns werden soll.
Im krisengebeutelten Griechenland können nur wirkliche Flüchtlinge auf die Nachsicht der Wähler hoffen. Die wirtschaftliche Lage des Landes bleibt explosiv. Laut einer Befragung, in der das Land mit anderen von der „Flüchtlingskrise” betroffenen Ländern verglichen wurde, sehen 64 % der Griechen die Folgen der Migration negativ, womit das Land einen Spitzenplatz im Vergleich mit Italien (57 %), Ungarn (56 %) und Österreich (49 %) einnimmt. Gut die Hälfte der Griechen glaubt, dass die Migranten eine »Vorzugsbehandlung« gegenüber den Einheimischen genießen; bei den Befragten zwischen 35 und 54 Jahren, die häufig Familienväter und -mütter sind, sind es sogar 65 %. Den Hintergrund solcher Zahlen bildet wohl auch die Mitteilung einer Staatssekretärin, dass für jedes unbegleitete Flüchtlingskind 86 € am Tag aufgewendet werden.
Doch auch in Griechenland lässt sich die öffentliche Meinung leicht durch ein emotionalisierendes Framing drehen. Das zeigt die Frage nach der Rückführung aufgegriffener Boote nach Libyen »auch unter der Inkaufnahme von Todesfällen«, die natürlich von knapp der Hälfte der Griechen verneint wird, obwohl sie auch die Arbeit der privaten Seenotretter sehr kritisch sehen (siehe oben). Natürlich will niemand die Toten des Mittelmeers, doch es gibt einen anderen Weg sie zu vermeiden.
Mitsotakis blinkt rechts… und meint die Mitte
Mit seiner konsequenten Asylpolitik folgt Mitsotakis also den Erwartungen der Griechen. Daneben machte er in einer parlamentarischen Fragestunde deutlich, dass Rassismus und Xenophobie nicht das Programm seiner Regierung sind: »Die Kinder der Flüchtlinge, die unser Land als zweite Heimat wählen, müssen sich als Griechen fühlen, und wenn ein Flüchtlingskind gut in der Schule ist, soll es auch die griechische Fahne tragen dürfen.« Mitsotakis blinkt rechts und meint die Mitte, verbindet Antirassismus mit griechischer Leitkultur und könnte so seine konservative Volkspartei Nea Dimokratia über den Tag hinaus konsolidieren. Die Bemerkung zur »griechischen Fahne« zielte übrigens auf die Diskussion um die sogenannten Fahnenträger ab: Der Beste eines Jahrgangs wird in allen Städten des Landes jeweils besonders geehrt, indem ihm die griechische Flagge während der Schülerparade anvertraut wird. Ob auch Schüler mit ausländischen Wurzeln die Fahne tragen dürfen, war immer wieder umstritten.
Das Parteienbündnis Kinima Allagis (»Bewegung für den Wandel«), das sich um die dezimierte sozialistische Partei Griechenlands gebildet hat, kritisierte unterdessen das neue Regierungsprogramm, da es vorgeblich die Solidarität der anderen EU-Staaten mit Griechenland untergrabe. Die Sozialistin Fofi Gennimatá möchte Griechenland offenbar als Drehkreuz für die Einwanderung von ›Flüchtlingen‹ in die EU etablieren. Auch die radikalen Linken von Syriza halten natürlich nichts von Mitsotakis’ »Politik der Abschreckung«. Doch es war die Vorgängerregierung unter dem Linkspopulisten Alexis Tsipras, die den Aufbau eines leistungsfähigen Verwaltungsapparats in Sachen Asyl über Jahre vernachlässigt hat, andernfalls es nie zu der drei- und vierfachen Überbelegung des Lagers Moria gekommen wäre.
Klar ist aber: Die meisten der Asyleinwanderer wollen weder in den für sie errichteten Aufnahmeeinrichtungen noch überhaupt in Griechenland bleiben. Auf der Autobahn nach Thessaloniki wurde jüngst ein Iraker mit überhöhter Geschwindigkeit in einem Kleinbus voller Landsleute aufgegriffen, nachdem er die Schranken einer Mautstelle durchbrochen hatte. An den vier größten Flughäfen des Landes wurden allein bis zum Juli dieses Jahres 4.300 Migranten bei einem illegalen Ausreiseversuch erwischt.
Neben der Beschleunigung der Asylverfahren in Griechenland und anderswo wird daher nur eine wirksame Abschreckung an der EU-Außengrenze den Ansturm der Schlauchboote stoppen können. Eine wendige, allzeit einsatzbereite Küstenwache dürfte hierzu der Schlüssel sein. Was Erdoğan kann, sollte den Europäern mit Leichtigkeit gelingen. Nach einem Treffen mit Mitsotakis im September hatte der Österreicher Sebastian Kurz schon im September die Verlegung zusätzlicher Frontex-Mitarbeiter an die griechische und bulgarische Grenze gefordert. Geschehen ist freilich nichts, obwohl auch die griechische Küstenwache ein Hilfegesuch an die europäische Grenzschutzbehörde gerichtet hat. Inzwischen forderte Mitsotakis – auch angesichts eigener Nöte mit dem einnehmenden Wesen seines Nachbarn –, dass auch die NATO ihre Präsenz in der Ägäis verstärkt. Das ist wohl die einzige Sprache, die auch der neue Sultan in Ankara verstünde.