Scheitert Italien an der Migrationsfrage, dann scheitert die Regierung Meloni. Konnte man den Zuwachs der Migrantenzahlen zu Jahresbeginn noch als Ausfluss der hohen Ankünfte unter der Vorgängerregierung deuten, so hat sich der Trend in den vergangenen beiden Monaten mit einer rasenden Geschwindigkeit fortgesetzt, mit der auch in Rom nur wenige gerechnet hatten.
Dabei ist die Migration als dominierendes Thema aus den italienischen Medien nicht verschwunden. Im Gegenteil hat ein Bootsunglück Ende Februar in der Nähe des süditalienischen Crotone die Regierung unter erheblichen Druck gesetzt. Der Vorfall kostete mindestens 72 Menschen das Leben. Nicht eine mögliche Abschottung, sondern eine Kritik an den Maßnahmen der Regierung dominierte die öffentliche Meinung.
Die Presse links der Mitte klagte die nationalkonservative Regierung an, die Tragödie provoziert zu haben. Der sozialistische Partito Democratico, die größte der linken Oppositionsparteien, fordert ein neues „Mare Nostrum“-Programm, wie es bereits eine linke Vorgängerregierung unter dem glücklosen Ministerpräsidenten Enrico Letta ins Leben gerufen hatte. Elly Schlein, die Chefin der Sozialisten, geißelte in bester „Refugees Welcome“-Tradition den Nationalismus der Regierung und die harten Verbote. Sie hat den Zuspruch einer ganzen Reihe von Medien, wie etwa der Repubblica, die nicht die hohen Migrantenzahlen, sondern die Maßnahmen als Problem ansehen.
Der Innenminister hat kein Lega-Parteibuch. Doch die persönliche Vita von Piantedosi lässt kaum erahnen, dass es sich hier um eine verdeckte Agenda handeln könnte. Der gebürtige Neapolitaner räumte als Präfekt gegen Drogendealer im tiefroten Bologna auf. Salvini berief ihn 2018 ins Innenministerium und trug die Entscheidungen des Lega-Chefs mit – darunter auch das Dekret der „geschlossenen Häfen“. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen gegen ihn auf, weil er einem Schiff von „Open Arms“ den Zugang verwehrte. Warum einem Mann, der früher seine „Law&Order“-Haltung bekannt war, plötzlich der Wille fehlen sollte, der größten Migrationskrise seit Jahren entgegenzutreten, bleibt ein Mysterium.
Eine gewisse Ratlosigkeit ist bei Piantedosi zu greifen. Nahezu jeden Monat hat er eine Neuerung vorangetrieben, um der steigenden Migrationsbewegung entgegenzutreten. Bisher erfolglos. Auch die wohlgesonnenen Medien wie die Tageszeitungen Giornale und Libero werden unruhig. Wie es etwa sein könne, dass trotz neuer Dekrete so viele Migranten nach Italien auf dem Weg seien, fragte das Giornale Ende Februar. Piantedosi gibt zu bedenken: im Januar seien 21.000 Migranten aus Nordafrika gar nicht erst abgefahren aufgrund der neuen Abkommen zwischen Italien und Libyen.
Es ist einer der Schlüsselmomente dieser aufziehenden Krise. Äußerungen wie diese mögen nicht beschwichtigen, wenn sie darauf verweisen, dass ohne die neue Regierung womöglich doppelt so viele Migranten italienische Gewässer erreicht hätten. Diese Information sollte jedoch die Augen dafür öffnen, dass es einen Punkt gibt, der weit über Sanktionen gegen NGOs, Inkompetenz oder gar Unwillen hinausgehen. Es ist die schlichte Masse an Menschen, die auf dem Weg nach Europa sind.
Denn die Migrationskrise ist keine rein lokal italienisches Ereignis. Jedenfalls ist sie das nicht mehr. Griechenland mag mit dem Zaunbau am Evros einen großen Erfolg verbuchen. Doch die Route der Migranten hat sich schlicht verlegt, und der Umstand, dass auch die Toten von Crotone ihre Abfahrt nicht aus Libyen, sondern aus der Türkei unternahmen, sollte hellhörig machen.
Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zum Jahr 2017. Inflation und Preissteigerung sind kein lokales europäisches Phänomen, sondern haben globale Auswirkungen. Die Ernährungskrise ist kein vorübergehendes Phantom gewesen, sondern besteht in vielen ärmeren Ländern fort. Die Auswüchse des Ukraine-Kriegs erreichen Entwicklungsländer und beeinflussen die Brotpreise.
Die COVID-Krise hat einige der dynamischer verlaufenden Migrationsbewegungen eingefroren. Mit dem Wegfall der Einschränkungen kommen größere Wanderungsbewegungen wieder in Gang. Nach einer Gallupp-Studie könnten sich 37 Prozent der in den Gebieten südlich der Sahara lebenden (jungen) Menschen vorstellen, auszuwandern. Von den bis zum 14. April angekommenen 32.000 Migranten stammen allein 5.400 aus der Elfenbeinküste, 4.100 aus Guinea, 1.500 aus Kamerun 1.000 aus Mali und 900 aus Burkina Faso.
Selbst wenn die italienische Regierung das Problem in den nächsten beiden Monaten in den Griff bekäme – die Menschen, die in den nächsten Wochen ankommen, sind jetzt schon in Bewegung. Sollten Griechenland und Italien blocken, werden sie sich andere Wege suchen. Angesichts der aufgeheizten außenpolitischen Lage haben die Anrainerstaaten Europas bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass sie den Migrationsfluss zur Waffe umbauen. Das gilt nicht nur für die Türkei. Weißrussland und Russland haben mit ihrer hybriden Kriegsführung am Vorabend des Ukraine-Krieges gezeigt, dass sie im Zweifel Iraker und Syrer aus Bagdad nach Minsk fliegen lassen, um die Stabilität der Nationalstaaten und der EU zu gefährden.
Diese Massen haben bereits einen Minister dazu bewogen, möglicherweise doch Kontingente von Migranten zuzulassen. Landwirtschaftsminister Lollobrigida etwa deutete die Idee an, jedes Jahr 100.000 Migranten in den nächsten 5 Jahren zuzulassen, also etwa 500.000 Menschen. Meloni hat den Lega-Vertreter dafür zurückgepfiffen. Sie machte klar, dass illegale Migration niemals eine Eintrittskarte nach Italien bedeuten dürfe. Lollobrigida ruderte zurück und erklärte, niemals über einen Plan gesprochen zu haben, der illegale Migranten zu legalen machen könnte.
Dass Meloni dagegen immer noch auf den Rückhalt der Italiener zählen kann, haben die kürzlich erfolgten Regionalwahlen gezeigt. Während im Ausland vor allem die Ukraine-Politik und die Migration wahrgenommen werden, nimmt man die innenpolitischen Reformen bezüglich Steuern, Streichung des Bürgergeldes und Familienunterstützung wohlwollend zur Kenntnis. Die Italiener sind immer noch positiv überrascht über die Wachablösung. Die Messlatte ist angesichts der letzten Jahre nicht besonders hoch.
Ob der italienischen Regierung die entscheidende Bewährungsprobe im ersten Regierungsjahr gelingt, ist noch nicht abzusehen. Angesichts dessen, dass das Migrationsproblem im Mittelmeer jedoch keine rein italienische, sondern eine globale Angelegenheit ist, sollte sich Europa auf einen unangenehmen Sommer gefasst machen, der jene unschönen Bilder mit sich bringen könnte, die andere zu vermeiden suchten. Die Auswirkungen von Energie-, Ernährungs- und beginnender Finanzkrise könnten sich bald nicht mehr in abstrakten Statistiken, sondern in nach Einlass fordernden Menschen manifestieren.