Tichys Einblick
Brüchige Deals in Afrika

Migration 2024: Ankünfte auf den Kanaren verfünffacht

Die EU-Außengrenzen sind auch im ersten Quartal 2024 ein wandelbares Bild: Auf den Kanaren gab es eine Verfünffachung der Zahlen, im östlichen Mittelmeer eine Verdoppelung. Die zentrale Route nach Italien ging zurück. Bürger rufen immer lauter nach einer wirksamen Begrenzung und Abwehr der Boote.

Symbolbild

picture alliance / Lena Klimkeit/dpa | Lena Klimkeit

Die Migrationsströme in die EU verlagern sich, aber sie hören nicht auf. So kann man die aktuelle Lage – einmal mehr – zusammenfassen. Nach ihrer großen Konjunktur im letzten Jahr gibt die zentrale Mittelmeerroute (nach Malta und Italien, teils Kreta) gerade etwas nach. Dafür ziehen die Kanaren mächtig, und die östliche Mittelmeerroute (nach Griechenland, Bulgarien und Zypern) deutlich an. Das zeigt ein interner Bericht der EU-Kommission über „Feststellungen illegaler Grenzübertritte an den EU-Außengrenzen“, aus dem die Welt am Sonntag zitiert, ebenso die Frontex-Statistik zum ersten Quartal.

Auf den Kanaren ist der stärkste Anstieg zu sehen, nämlich ein Plus von 421 Prozent im Vergleich mit dem Vorjahr. Das bedeutet, dass sich der illegale Bootsverkehr auf die spanische Inselgruppe in diesem Jahr mehr als verfünffacht hat. Die Ankünfte in der Ägäis, Griechenland, Bulgarien und Zypern haben sich verdoppelt (plus 109 Prozent), die zentrale Mittelmeerroute ging um 58 Prozent zurück, hat sich also halbiert. Damit herrscht eine Art Gleichstand. Über alle drei Routen wurden jeweils gut 15.000 illegale Einreisen in die EU festgestellt. Daneben ist von zusätzliche Einreisen auszugehen, die aber nicht festgestellt werden.

Im Sommer erwartet Spanien 70.000 Ankünfte

Im März ließ die Bedeutung der Kanarenroute nach (noch 1.575 illegale Einreisen). Doch im April waren es wieder 2.807 Migranten. Für die Sommermonate bereitet sich die Inselgruppe angeblich auf 70.000 Ankünfte vor – und damit sind nicht die teils ungeliebten Touristen gemeint. Das östliche Mittelmeer gab im März ebenfalls nach (noch 3.889 illegale Einreisen, davon 2.231 nach Griechenland), während die zentrale Mittelmeerroute stark blieb (6.738 Ankünfte). Im April gingen auch die italienischen Ankunftszahlen auf  4.721 zurück, wie das Innenministerium mitteilt. Ende April und Anfang Mai sanken die Ankünfte gar auf Werte nahe Null, wo es im Vorjahr teils mehr als tausend Einreisen pro Tag gab. Sollte das bereits der Erfolg der Regierungspolitik gegen die NGO-Schiffe sein? Oder war doch nur das Wetter schuld?

Nun kamen innerhalb von 48 Stunden vier Boote mit 438 Migranten in Lampedusa an, dann gar in 24 Stunden 17 Boote mit 627 Insassen. Das wirkt schon fast wieder wie eine konzertierte Aktion. Dennoch sind die Zahlen insgesamt deutlich kleiner als im letzten Jahr. Im Hotspot sitzen laut der staatlichen Agentur ANSA nun 552 Migranten. Auch am westlichen Balkan haben die festgestellten Einreisen um 64 Prozent abgenommen, standen aber immer noch bei 5.500 in drei Monaten, was natürlich zu viel ist.

Staatliche Retter sind unpopulär geworden

Auf den spanischen Atlantik-Inseln sind die staatlichen Seenotretter in ständigem Einsatz und laufen auf Benachrichtigung hin aus, um die sich nähernden Boote der Migranten aufzulesen. Anscheinend werden diese öffentlichen Fährdienste aber auch auf den Kanaren zunehmend unpopulär: Ein staatlicher Seenotretter will gemäß Welt am Sonntag lieber anonym bleiben.

Fast die Hälfte der Ankünfte auf den Kanaren machen Malier aus (44 Prozent), danach folgen die Senegalesen (15 Prozent), Mauretanier (10 Prozent) und Marokkaner (acht Prozent). Die letztgenannten drei Länder teilen sich die afrikanischen Küstenabschnitte in der Nähe der Kanaren. Dabei ist das mauretanische Nouadhibou (der nördlichste Küstenort des Landes) 766 Kilometer, das senegalesische Saint-Louis sogar 1.300 Kilometer von der Insel El Hierro entfernt, auf der viele der Boote anlanden. Hier wie im Mittelmeer stellt sich also die Frage, ob die Migranten und kleinen Schlepper diese Entfernung allein in ihren Booten zurücklegen können oder dabei von größeren Akteuren unterstützt werden. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Route eine der tödlichsten ist, auch wenn es dazu kaum Zahlen gibt.

Auch die westliche Mittelmeerroute nahm im ersten Quartal zu (plus 45 Prozent). Aktuelle Meldungen sprechen von durchaus spontan wirkenden Ankünften im andalusischen Almería (im Video beobachtet von der Guardia Civil), auf den Baleareninseln Formentera und Mallorca. Insgesamt ist das noch ein kleineres Phänomen: 826 Ankünfte gab es im März. Dennoch wird das politische Klima in Madrid in diesen Fragen heißer.

Unionssprecher Throm: Nicht-Schutzberechtigte von Außengrenzstaaten abschieben lassen

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) spricht von 476 unbekannt verschollenen Migranten im zentralen Mittelmeer im ersten Quartal (zitiert von Frontex). Das macht nahezu 2.000 Vermisste im Jahr. Für alle Seerouten aus der Region Naher Osten plus Nordafrika (MENA) gab die IOM noch für 2022 eine Zahl von 2.761 vermissten Personen. Nach diesen Zahlen wäre das zentrale Mittelmeer die viel tödlichere Route. Aber der Atlantik ist vermutlich auch weniger im Blick der internationalen Beobachter.

Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm, forderte, dass die lebensgefährliche Route „so schnell es geht, geschlossen oder wenigstens erheblich eingedämmt werden“ müsse. Geschehen soll das durch „zügige Verfahren und Rückführungen“, die laut Throm mit „intensiver EU-Unterstützung“ ermöglicht werden können. Die Bürger Europas warten demnach darauf, dass „endlich ein nennenswerter Teil der nicht schutzberechtigten Asylsuchenden von den Außengrenzstaaten abgeschoben werden kann“. Das sieht nach Throm schon das bisherige Migrationsrecht vor, auch die EU-Asylreform beabsichtige eigentlich dies.

Das bleiben wolkige Forderungen, solange Throm nicht spezifiziert, durch welche Regelungen Spanien Nicht-Schutzberechtigte abschieben soll. Schnellverfahren nach den neuen EU-Regeln (GEAS)? Aber die müssen vor 2026 nicht angewandt werden, und es ist unwahrscheinlich, dass Premier Pedro Sánchez sie vorzieht. Im Januar hatte Sánchez El País gesagt: „Die Abschiebung von Migranten ist Sache der zentralen Verwaltung.“ Der Autonomen Region Katalonien versagte er damit ein Abschieberecht. Damit dürfte klar sein, in welche Richtung der Sozialist Sánchez sein Land steuern will: natürlich auch in Richtung GEAS, aber möglichst langsam und möglichst minimal.

1. Syrer, 2. Malier, 3. Afghanen – die Top-3 im ersten Quartal

Mit einigen der afrikanischen Herkunftsländer bestehen bereits EU-Migrationsabkommen oder andere Deals. So erhielt Mauretanien erst im März 230 Millionen Euro von der EU, um Migranten und Schlepper aufzuhalten – ein eher kleiner Betrag im Vergleich etwa mit dem tunesischen oder ägyptischen EU-Deal, die in Milliarden Euro berechnet werden. Im Umfeld des EU-Deals sagte der mauretanische Wirtschaftsminister Abdessalam Ould Mohamed Saleh: „Unser Land wird kein Land für irreguläre Migranten sein, und die Europäische Union stimmt damit überein. Mauretanien wird sie – entsprechend diesem gemeinsamen Abkommen – weder aufnehmen noch beherbergen.“ Gemäß diesen Worten hätte man also die Zurückweisung der Migranten an der mauretanischen Grenze vereinbart.

In Mauretanien ist der Deal unpopulär, wie Aljazeera berichtet. Und das destabilisiert letztlich auch dieses Land. Die jüngsten Putsche in der Sahelzone liegen nicht zu weit ab. Auch der große, zu 90 Prozent sunnitische Nachbar Mali ist nach dem westlichen Truppenabzug keineswegs zur Ruhe gekommen, wie die genannten Zahlen von den Kanaren zeigen. Dschihadistische Gruppen dominieren Teile des Landes. Auch insgesamt belegen die Malier aktuell den zweiten Platz bei den illegalen Einreisen in die EU. Auf dem ersten und dritten Platz sind die altgewohnten Syrer und Afghanen.

EU-Verordnung sieht Zurückweisung und Zurück-Eskortieren vor

Tatsächlich besteht aber schon jetzt das Recht und wohl auch die Verpflichtung für Einsatzkräfte, gegen Schleuser an Seeaußengrenzen tätig zu werden. In Zypern sind angesichts der großen Belastung ähnliche Vorschläge im zumindest zivilen Umlauf, auch wenn die Politik sie noch nicht aufgreift. In der EU-Verordnung 656/2014 (vom 15. Mai 2014) zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen heißt es unter anderem:

Artikel 5

Sichtung

(1) Bei Sichtung eines Schiffs, bei dem der Verdacht besteht, dass es Personen befördert, die sich den Kontrollen an den Grenzübergangsstellen entziehen oder zu entziehen beabsichtigen, oder dass es für die Schleusung von Migranten auf dem Seeweg benutzt wird, nähern sich die beteiligten Einsatzkräfte dem Schiff, um seine Identität und seine Staatszugehörigkeit festzustellen, und beobachten es bis auf Weiteres aus sicherer Entfernung, wobei sie alle nötigen Vorkehrungen treffen. […]

Artikel 6

Abfangen im Küstenmeer

(1) Im Küstenmeer des Einsatzmitgliedstaats oder eines benachbarten beteiligten Mitgliedstaats ermächtigt dieser Staat die beteiligten Einsatzkräfte, eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen zu ergreifen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass ein Schiff Personen befördert, die sich den Kontrollen an den Grenzübergangsstellen zu entziehen beabsichtigen, oder für die Schleusung von Migranten auf dem Seeweg benutzt wird:

  1. Ersuchen um Information und Vorlage von Dokumenten zum Nachweis der Eigentumsverhältnisse […];
  2. Anhalten und Betreten des Schiffs, Durchsuchen des Schiffs […].

(2) Werden Beweise gefunden, die diesen Verdacht bestätigen, so kann dieser Einsatzmitgliedstaat oder benachbarte beteiligte Mitgliedstaat die beteiligten Einsatzkräfte dazu ermächtigen, eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen zu treffen:

  1. Beschlagnahme des Schiffs und Ingewahrsamnahme der an Bord befindlichen Personen;
  2. Anweisung an das Schiff, seinen Kurs in Richtung eines Bestimmungsorts außerhalb des Küstenmeers oder der Anschlusszone zu ändern beziehungsweise diese zu verlassen, einschließlich Eskortieren oder Geleiten des Schiffs, bis bestätigt wird, dass sich das Schiff an den vorgegebenen Kurs hält;
  3. Beförderung des Schiffs oder der an Bord befindlichen Personen im Einklang mit dem Einsatzplan bis zu dem Küstenmitgliedstaat.

Vor allem die zuletzt genannte Maßnahme unter b) steht im Einklang mit den zypriotischen Ideen zur Abweisung unberechtigter Asylbewerber. Sie hat zudem den Vorteil, dass sie auch ohne EU-Krisenmechanismus sofort umgesetzt werden kann. Die griechische Regierung hatte sich in der Vergangenheit auf den Text berufen, auch wenn der Küstenschutz-Elan vor Lesbos und Samos zuletzt etwas abgenommen hat. 9.342 illegale Einreisen gab es hier im ersten Quartal 2024, meist über die Ägäis-Inseln. Damit sind wieder Zahlen erreicht wie seit Jahren nicht mehr in dieser Jahreszeit. Im letzten Sommer und Herbst hatte es allerdings schon Zunahmen bis auf 11.500 Ankünfte in einem Monat (September) gegeben. Das kann auch dieses Jahr wieder passieren, wenn die Regierung Mitsotakis nicht am Grenzschutz festhält.

Auf Zypern hat der Demographie- und Migrationsforscher Andreas Morphitis laut der Tageszeitung Simerini den Vorschlag gemacht: „Wenn Frontex mit Hilfe der Küstenwache und der örtlichen Sicherheitsbehörden kooperiert, werden die Boote zurückgeschickt. Sie werden nicht zurückgeschoben, sondern erhalten ein Verbot, in die 12-Seemeilen-Zone einzufahren.“ Immer deutlicher zeichnet sich so ein – freilich längst bekanntes – gemeinsames Problem der EU an ihren Seegrenzen ab.

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