Der weißrussische Präsident ist die nächste Figur, die die EU-Spitzen das Fürchten lehren könnte. Der Postkommunist Alexander Lukaschenko hat es dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und dem marokkanischen Premierminister Saadeddine Othmani gleichgetan und seinen EU-Nachbarn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Zusammenarbeit aufgekündigt. War er zuvor kooperativ bei der Verhinderung der irregulären Migration, so hat seine Regierung nun – nach dem Fall Protasewitsch – die Tore zum Baltikum geöffnet.
Ähnlich seinem türkischen Amtskollegen verkündete Lukaschenko ganz offen, dass er »undokumentierte Migranten« nicht mehr an den Westgrenzen des Landes aufhalten will: »Vorher haben wir scharenweise Migranten aufgehalten – jetzt könnt ihr sie alleine fangen.« Die Menschen seien auf dem Weg aus »Kriegszonen« ins »warme und bequeme Europa«, und Deutschland brauche Arbeiter, wird der Staatschef von Infomigrants weiter zitiert.
Außerdem will Lukaschenko Warenlieferungen aus China und Russland unterbinden. Er reagiert damit auf Sanktionen, die die EU gegen sein Land verhängte, nachdem ein Flugzeug mit dem Regimekritiker Roman Protasewitsch abgefangen wurde. Protasewitsch wurde inhaftiert, vermutlich gefoltert und gab anschließend in einem Video die in seinem Land illegale Organisation von Protesten zu.
Lukaschenko macht die EU für die Migration verantwortlich
Ein Sprecher des weißrussischen Staatsgrenzenkomitees bestätigte eine Zunahme der Migration, die er auf die Lockerung der Corona-Regeln in anderen Ländern zurückführte. Die weißrussischen Grenzschützer hätten die Ausreisen keineswegs unterstützt, wie von Litauen behauptet. Die litauischen Grenzschützer beklagen, dass ihre weißrussischen Kollegen nicht auf Anfragen reagiert hätten. Regierungschefin Ingrida Šimonytė sprach von einem »hybriden Angriff« auf ihr Land. Ihre Regierung gilt als eine der kritischsten gegen Lukaschenkos Regime.
Der Diktator von Minsk machte indessen die EU-Länder, in diesem Fall Litauen, für die Migrantenströme verantwortlich. Nachdem litauische Behörden ankündigten, das Asylverfahren auf zehn Tage zu verkürzen, erwiderte er laut der Belta News Agency: »Wenn ihr der ganzen Welt erklärt, dass diejenigen, die ihren Weg durch Belarus zu euch finden, noch schneller registriert werden, dann werden noch mehr von ihnen kommen. So öffnet ihr die Tore für diese Migranten nur noch weiter.«
In Litauen sind seit Jahresbeginn über 1.300 illegale Migranten angekommen, mit steigender Tendenz. Im ganz Jahr 2020 waren es nur 81. Die irregulären Einreisen waren schon im April und Mai erhöht (70 und 77), stiegen aber im Juni rapide an. Eine Beraterin des Innenministeriums sagte: »Man kann nie wissen, wann das chronische Problem akut wird. Litauens Nachbar wird von einem Diktator regiert, dessen Handlungen unvorhersehbar sind.«
Die Regierung hat nun den Notstand ausgerufen, der laut Innenminister Agle Bilotaite einen »robusten« Umgang mit der Migrationskrise erlaubt: »Es ist sehr wichtig, ein legales System und Werkzeuge zu haben, die schnelle Entscheidungen bei sich stellenden Herausforderungen ermöglichen.« Im Juni wurde ein Zeltdorf errichtet, das laut Infomigrants Platz für 1000 Migranten bietet und auf mehrere tausend Plätze erweitert werden soll.
Der »Diktator im Osten« und die Frage nach dem Grenzschutz
Laut dem stellvertretenden Außenminister Mantas Adomenas ist das hauptsächliche Problem die Identifikation von Migranten, die ohne Papiere ankommen. Man versuche, ihnen »Dokumente zu geben, so dass Wirtschaftsmigranten in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden können«. Ob das angesichts der Tendenz zum Untertauchen mehr als schöne Theorien sind, kann man aus der Ferne nicht beurteilen. Die litauische Regierung der Parteilosen Ingrida Šimonytė will aber technische Maßnahmen ergreifen, um die illegale Immigration zu verhindern. Der Kommunikationschef der litauischen Grenzschützer hält einen Zaun, Elektrokabel und Kameras für denkbar. Auch Tränengas und Warnschüsse seien zum Einsatz gekommen, um einzelne Gruppen festzunehmen.
Ursula von der Leyen war, wie stets wenn illegale Immigration eine außenpolitische Komponente hat, sogleich zur Stelle und bekundete, dass die Sorgen der litauischen Regierung »europäische Sorgen« seien. Man stehe »in dieser schwierigen Zeit« an der Seite der Litauer. Damit ist freilich nicht gesagt, was mit den ankommenden Migranten geschieht. Jedenfalls sollen vermehrt Frontex-Beamte nach Litauen und Lettland entsandt werden. Nächste Woche will Charles Michel mit dem irakischen Präsidenten sprechen, um eine Repatriierung der irakischen Staatsbürger zu erreichen: »Wir werden auch mit anderen Herkunftsländern in Kontakt sein, um zu sehen, wie die Zusammenarbeit mit diesen Ländern verbessert werden könnte, indem man ein Signal sendet, dass es unmöglich ist, dorthin [in die EU] auf illegalem Wege zu gelangen.«
Es fällt übrigens auf, dass gerade US-amerikanische Medien von dem Geschehen berichten (neben Politico auch ABC News ) – vielleicht aber auch mit einem Gedanken an die eigene Südgrenze.