Tichys Einblick
Erhöhte Migrationsströme in der Osttürkei

Tausende überschreiten die Grenze zur Türkei bei Van

An der Ostgrenze der Türkei gibt es eine deutliche Steigerung illegaler Grenzübertritte. Angeblich passieren mehr als 1.000 irreguläre Migranten täglich die türkisch-iranische Grenze. Mit dem Nato-Abzug aus Afghanistan dürften das nicht zusammenhängen. Afghanische, pakistanische und andere Migranten leben schon lange im Iran und warten nur auf eine Gelegenheit zur Weiterreise nach Europa.

Van in der Türkei

picture alliance / AA | Ozkan Bilgin

Vor wenigen Tagen erregte der Abzug von US- und andere Truppen aus Afghanistan Aufsehen. Zwanzig Jahre Krieg und Besetzung gehen damit zu Ende. Natürlich flammten in dem schlecht befriedeten Land sogleich neue Kämpfe auf, die vorher nur notdürftig unter Verschluss gehalten worden waren. Die Taliban rückten vor. Inzwischen ist ihr Vormarsch in verschiedenen Provinzen zum Halten gekommen. Erste Rückeroberungen und Waffenstillstände werden gemeldet.

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Für das Land am Hindukusch ergibt sich eine neue Chance zur Selbstorganisation, ohne fremde Einmischung. Doch gut 2.000 Kilometer weiter westlich spielt sich etwas anderes ab. Aus dem Osten der Türkei dringen seit Monaten immer wieder Bilder und Nachrichten von Migranten, die zu hunderten über die hügelige Grenze kommen. Nun erhärten sich diese Geschehnisse durch Videoaufnahmen und Presseberichte. Türkische Medien und Social-Media-Nutzer berichten von tausenden irregulären Migranten, die jeden Tag aus östlicher Richtung ankommen.

Schauplatz der Bilder ist das wilde, manchmal malerische Kurdistan. Die Provinz Van liegt an der Ostgrenze der Türkei zum Iran. Ihre weitgeschwungenen, baumlosen Hügel sind das seit Jahren bekannte Einfallstor in die Türkei. Dennoch unternehmen die türkischen Grenzposten praktisch nichts gegen die Migrantenströme, die sich zum Teil wie Tausendfüßler auf schmalen Pfaden fortbewegen. Es sind keineswegs nur Afghanen, die da ankommen – wie ein ziemlich naheliegendes Narrativ nun erklärt –, sondern ebenso Pakistanis und Bangladeshis. Die Vermehrung der illegale Grenzübertritte erklärt sich vor allem aus dem Abflauen der pandemischen Lage und dem warmen Wetter der Sommermonate.

Auf Twitter erregen sich türkische Nutzer über ihren untätigen Staat. Griechenland baue gewaltige Stahlbarrieren mit Elektrodraht an seinen Grenzen, meint ein Neurologe aus Ankara, Migrantenboote würden direkt in der Ägäis versenkt – was natürlich nicht stimmt. Doch die griechische Grenzpolitik wird als konsequent wahrgenommen und macht folglich Eindruck auf die türkische Bürger, die eine ungehinderte irreguläre Migration in ihr Land beklagen. Dadurch sehen sie auch die Türkei transformiert. Anderen dämmert, dass Erdogan und seine Regierung die Migranten auch einsetzen, um Geld zu verdienen und den eigenen Einfluss auszuweiten.

2019 hatte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar behauptet, alles in seiner Macht Stehende tun zu wollen, um die Grenzen des Landes zu schützen. Die Grenzen bedeuteten die »Ehre« der Türkei, so seine Botschaft. Doch davon ist weder in West noch Ost etwas zu sehen.

Die Taliban haben derweil von der Türkei gefordert, ihre Truppen ebenfalls aus Afghanistan abzuziehen. Die türkischen Truppen bewachen den Flughafen von Kabul und ermöglichen insofern einen normalen Flugverkehr und das Funktionieren diplomatischer Vertretungen in Kabul. Doch was ist die wirkliche Rolle der Türkei in dem Bürgerkriegsland?

Der Photo-Journalist Ruşen Takva schreibt auf Twitter, dass jeden Tag mindestens 1.500 Migranten die Provinz Van erreichen. Seine Bilder zeigen kleinere Gruppen, die von Schleusern zu Pferd empfangen werden. Später hätten die Schleuser mit Gewalt gedroht und ihn und einen Kollegen vertrieben. Takva beschreibt, dass türkische Grenzposten den Trecks weitgehend tatenlos zusehen, während iranische Soldaten den Migranten auch noch behilflich sind. Die türkischen Beamten bringen gelegentlich Migranten zurück zur Grenze und überlassen sie dort sich selbst. Die Migranten ziehen in der nächsten Nacht einfach von neuem los. In den türkischen Dörfern warten Minibusse auf die Eindringlinge, um sie schnell Richtung Westen zu bringen. Auch Boote fahren über den Van-See, und auch hier sterben viele Migranten auf ihrer Reise und werden häufig anonym begraben.

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Daneben ist die Provinz Van laut Takvas Kollege Şenol Bali auch ein Einfallstor für afrikanische Migranten. Vor allem kommen die irregulären Migranten aber von Osten aus den genannten Ländern. Sie bedienen sich dabei internationaler Schmugglernetzwerke, mit denen sie vielleicht schon in ihren Heimatländern Deals abgeschlossen haben. Van scheint der eigentliche Knotenpunkt der Migrantenströme zu sein. Auf der Website des türkischen Independent spricht Bali von 500.000 Migranten, die jährlich über die alte Festungsstadt in die Türkei gelangen. Ein Video zeigt vorgeblich Afghanen, die vor den Taliban fliehen wollen. Doch das ist nicht recht glaubhaft. Verließe ein Afghane heute zu Fuß seine Heimat, dann käme er erst in etwa einem Monat an der türkischen Ostgrenze an.

Tatsächlich leben viele tausend Afghanen schon seit langem im Iran und in Pakistan, um dort zu arbeiten. Der UNHCR schätzt, dass seit Jahresbeginn 270.000 Afghanen ihr Heimatland verlassen haben. Insgesamt seien 3,5 Millionen Afghanen »entwurzelt« – eigentlich müsste man eher sagen: migriert, aus welchen Gründen auch immer. Die meisten von ihnen leben heute in Pakistan und dem Iran.

Daneben dürften die Bodengewinne der Taliban nach dem Nato-Abzug unausweichlich gewesen sein. Auch der afghanische Ex-Präsident Hamid Karzai stellt im Gespräch mit der FAZ fest: »Die Taliban gehören zu diesem Land.« Vielleicht muss man also auch in dieser Frage einmal den Realismus einziehen lassen.

Probleme, die nicht von Europa gelöst werden können

Die meisten Afghanen, die die Türkei erreichen, sind Männer im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. 500.000 Afghanen sollen heute in der Türkei leben, sie stellen dort angeblich die zweitgrößte Migrantengruppe. Afghanistan hat mit 6,8 Kindern pro Frau eine der höchsten Reproduktionsraten außerhalb Afrikas. Es wird angenommen, dass sich die Bevölkerung – heute 33 bis 38 Millionen – bis 2050 mehr als verdoppeln dürfte, auf dann über 80 Millionen. Das Land ist zwar knapp doppelt so groß wie Deutschland, aber angeblich sind nur sechs Prozent der Fläche landwirtschaftlich nutzbar. Hier könnten sich noch Probleme ergeben, freilich weniger solche des Asylrechts als vielmehr des wirtschaftlichen Prosperierens. Probleme, die jedenfalls nicht in oder auch nur von Europa gelöst werden können.

Sendung 15.07.2021
Tichys Ausblick Talk: „Was ist in diesen Zeiten noch normal?“
Das hohe Bevölkerungswachstum hat natürlich auch mit den langen Kriegen zu tun, denen das Land seit mehr als 40 Jahren ausgesetzt ist. Der Überschuss an jungen Männern wird aufgrund des Mangels an wirtschaftlicher Prosperität ins Ausland abgeleitet. Da die Transitländer Pakistan, Iran und Türkei keine starken Verluste durch diese Art der Wirtschaftsmigration erleiden, sondern eher noch Gewinne realisieren können (günstige Arbeitskräfte, Einkünfte durch Schleuserringe), geht das Karussell weiter. Natürlich muss auch ein Endabnehmer da sein. Dass man sich um diese Rolle bewirbt, ist die deutsche und im weiteren Sinne europäische Schuld und Verantwortung bei diesem Ganzen.

Horst Seehofer hat dieser Tage in einem Interview mit dem Focus gesagt, man müsse die illegale Migration schon an der Grenze aufhalten. Aber man kann weder glauben, dass dies die Linie »der gesamten Bundesregierung« ist, noch reicht diese Erkenntnis aus, wenn man illegale Migration verhindern will. Denn dieselbe setzt früher an und endet später.

In Griechenland wurde in diesen Tagen einer von zwei hochmodernen Überwachungszeppelinen in Betrieb genommen. Von Alexandroupoli aus soll er mittels Radar und Nachtsichtkameras (mit einem Radius von 32 km) die Evros-Grenze überwachen. Im August soll ein zweiter Zeppelin aus deutsch-französischer Produktion auf der Ägäis-Insel Limnos stationiert werden und dort die Situation an den Seegrenzen überwachen.

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