Während Macron und Merkel sich an der Côte d’Azur als »komplementäres« Führungsduo feiern, setzt das türkische Forschungsschiff Oruc Reis seine Schlaufenfahrt fort. Erdogan setzt eine Provokation nach der anderen, spricht von griechischer »Piraterie« und französischem »Kolonialismus«. Ende August wird er wohl mit Verhandlungen belohnt werden. Fraglos klar ist, durch wessen Tun.
Emmanuel Macron hat Angela Merkel auf seine Urlaubsfestung Brégançon eingeladen, wo man vom sicheren Boden der Provence aus schon einmal einen Blick aufs Mittelmeer wagen kann. Wie eine halb verwunschene, halb verzauberte Insel liegt das Fort auf dem erhabenen Ende einer Landzunge. Angela Merkel kam gerne her und nannte es den »schönsten Ort der Welt«. Zuletzt war Helmut Kohl hier vor 35 Jahren der Gast der Mitterrands gewesen. Es ist ein Vorposten der Vernunft, der in das Reich der wilden Phantasie hineinreicht. So ähnlich wie die Politik der Kanzlerin, die sich immer so vernünftig gibt, aber von den Wellen des Unverstands in Wahrheit mehr als nur umtost und von ihrer utopischen Gischt mehr als nur befeuchtet wurde.
Man blickt, wenn man blickt, auf den westlichen Teil des Mittelmeers, wo nur in großer Ferne die algerischen Gestade den Fluten entragen. Geht man etwas weiter nach Osten, so liegt Tunesien schon deutlich näher an Inseln wie Sizilien oder Lampedusa. Und gänzlich unübersichtlich wird es im östlichen Mittelmeer, wo sich Insel an Insel reiht. Hier ist Afrika zwar ferner, doch zugleich Asien näher.
Man könnte sagen, dass die Menschen, egal ob sie auf dem griechischen Festland leben oder auf Kreta, den zahllosen griechischen Inseln oder auf Zypern, dieses Asien noch in den Knochen spüren. Ein Asien von 400 Jahre Fremdherrschaft – um alles Frühere auszublenden, wo auch schon einmal europäische Freiheit gegen orientalischen Despotismus aufstand. Auch an der Levante, im Libanon, Syrien und Israel kann man sich dieser Vergangenheit wohl noch erinnern.
Doch die Flitterwochen-Stimmung könnte fast schon wieder verflogen sein, denn in diesen Tagen scheinen Merkel und Macron in einer wichtigen Frage entzweit. Geht es um die Türkei, dann geriert sich Merkel gern als Taube, die den Dialog sucht, während Macron lieber den tatkräftigen Part innehat. In einem Interview mit Paris Match kommentierte er das eigensinnige Verhalten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit eindeutigen Worten: Erdogan betreibe eine expansionistische Politik, die Nationalismus und Islamismus miteinander vermenge und nicht mit den »europäischen Interessen« kompatibel sei. Er sei der eigentlich »destabilisierende Faktor« in der Region.
Merkels »Sozusagen«-Angriffe auf die europäische Souveränität
Nach Macrons Willen soll die EU die Souveränität der Mitgliedsstaaten verteidigen, wo diese in Zweifel gezogen wird. Dazu müsse man den Tatsachen ins Auge blicken und sich ihrer annehmen. Macron will kein Scharfmacher sein, aber auch nicht zahnlos. Er glaubt nicht an »eine machtlose Diplomatie« – das ist wohl auch eher Merkels Markenzeichen.
Es gebe keine tiefen Gräben zwischen Paris und Berlin, hatte der Élysée-Palast im Voraus verlauten lassen. Offenbar hilft an dieser Stelle das Wünschen noch. Auf der Pressekonferenz zum Abschluss ergriff dann vor allem Macron das Wort, um diese Verbindung der Gegensätze zu erläutern: »Unser strategisches Ziel im östlichen Mittelmeer ist dasselbe: europäische Souveränität und Stabilität.« Deutschland und Frankreich sollen nach Macron abgestimmt und gleichsam »komplementär« agieren, sich also gegenseitig ergänzen. Jedes der beiden Länder habe seine eigene Geschichte und verfüge daher über »verschiedene Mittel«, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Man stimme aber bei den Zielen der Deeskalation und der Souveränität überein.
Tatsächlich sprach auch Merkel von Stabilität statt Spannungen, konnte aber Angriffe auf die Souveränität von EU-Mitgliedsstaaten nur »sozusagen« erkennen. Am Schluss wiederholte sie natürlich noch einmal ihren Aufruf zum Dialog, zu dem alle Betroffenen verpflichtet seien. Diese »Sozusagen«-Angriffe auf die Souveränität von EU-Partnern waren sozusagen ein Gastgeschenk an Macron, das Merkel sicher nur mit Mühe hervorbrachte. Ein Griechenland- oder auch nur EU-Fähnchen schwenkte sie dabei nachweislich nicht. So entsteht der Eindruck, dass sich hier zwei getroffen haben, die trotz allem Anschein von Harmonie so wenig miteinander verbindet, dass man die Gegensätze einfach im Raum stehen und wirken lässt.
Daneben erinnerte Macron daran, dass er einer der wenigen europäischen Staatschefs gewesen ist, der Erdogan zu einem Staatsbesuch empfangen habe. Viele hätten ihm das damals vorgeworfen. Jetzt könnte sich Recep Tayyip bei ihm revanchieren. Frankreich hat allerdings gerade zwei Schiffe, die Fregatte »Lafayette« und einen Hubschrauberträger, sowie zwei Kampfjets des Typs »Rafale« in die Region entsandt, um an der Sicherung der europäischen Seegrenzen mitzuwirken. Vor Kreta führten die beiden Schiffe am Donnerstag gemeinsame Manöver mit der griechischen Marine durch. Mitsotakis nannte Macron einen »wahren Freund Griechenlands und glühenden Verteidiger europäischer Werte und des internationalen Rechts«.
Geht es in Wirklichkeit um die EastMed-Pipeline?
Erdogan hatte die Aktivitäten seiner Gegenspieler als »Piraterie« bezeichnet. Meinte er damit den Zwischenfall zwischen den Fregatten Limnos und Kemal Reis. In griechischen Medien wurde der Vorfall inzwischen auch in Computergraphiken rekonstruiert. Die Kemal Reis war neben einigen Corvetten zum Schutz des Forschungsschiffs Oruc Reis abgestellt. Anscheinend beobachtete die Limnos den Flottenverband von der Seite. Aus irgendeinem Grund soll die Kemal Reis dann ausgeschert und der Limnos in ihren Kurs gefahren sein. Die Beschädigungen am türkischen Schiff werden durch Photos belegt. Russische Medien behaupteten, im gleichen Moment habe ein griechisches Unterseeboot die Erkundungskabel der Oruc Reis gekappt. Doch dafür fehlt eine Bestätigung. In Griechenland wird der Kapitän der Limnos als Held gefeiert, damit hatte man das Scharmützel zwischen den beiden Flotten, das die Regierung dem patriotisch erregten Volk in gewisser Weise schuldig war.
Die Oruc Reis setzte ihre Fahrt in der Gegend südlich von Kastellorizo fort – durch den Schlaufenkurs erscheint es, als betriebe das Forschungsschiff eine seismische Erkundung des Meeresbodens. Ob das wirklich so ist, bleibt offen, ist im Grunde auch egal, denn zu einer baldigen Ausbeutung des Meeresstreifens wird es nicht kommen. Es handelt sich um eine symbolische Provokation der türkischen Staatsführung, die die eigenen Ansprüche im östlichen Mittelmeer in Erinnerung rufen soll. Die türkischen ›Erkundungen‹ zeigen jedenfalls, dass man noch gar nicht weiß, ob da überhaupt etwas zu holen ist.
Tatsächlich ist es denkbar, dass sich die türkischen Provokationen allein jenem älteren Projekt einer EastMed-Pipeline verdanken, die Griechenland zusammen mit Israel und Zypern bauen möchte, um ganz reale Gasfunde aus den israelischen Küstengewässern nach Europa zu transportieren. Dieses seit 2015 angeschobene Projekt, das 2018 und im Januar 2020 zu zwei Vereinbarungen zwischen den drei Mittelmeeranrainern führte, hat sicher die Missgunst der Türkei hervorgerufen. Und da nach den Funden vor der Küste Ägyptens, Israels und des Gazastreifens weitere Lagerstätten um Zypern und weiter westlich vermutet wurden, nutzte die Türkei eine alte Trumpfkarte.
Sie war nämlich dem internationalen Abkommen über die Vereinbarung von Seegrenzen nicht beigetreten und hatte in der Folge nie akzeptiert, dass auch Inseln einen Kontinentalschelf besitzen. Schon das war natürlich eine Entscheidung, die sich gegen Griechenland und die ihm in einem historischen Kompromiss zugesprochenen Inseln der Ägäis richtete. Im Lausanner Vertrag von 1923 und einigen Folgeabkommen wurden Griechenland praktisch alle Ägäis-Inseln bis auf zwei Eilande vor der Marmarasee zugesprochen. Dafür blieben die Küsten bei der Türkei. Die maßlosen Gebietsforderungen im Mittelmeer zwischen Kreta, Zypern und der Levante würden, gäbe man ihnen nach, die Türkei mit ins Boot der EastMed-Pipeline setzen.
Der »Zeit« wird schon ganz pluderig im Gemüte
So erklärt es sich vielleicht auch, dass griechische Regierungsvertreter davon sprachen, man wolle mit der Türkei sprechen, doch Thema dieser Gespräche werde ausschließlich die Grenzziehung im östlichen Mittelmeer sein. Das ist natürlich ein Zugeständnis, denn bisher war die griechische Position, dass die Grenzen laut internationalem Recht eindeutig sind. Auf dieser Ansicht wird man wohl auch in direkten Gesprächen beharren. Doch die Athener Formulierung könnte eigentlich eine andere Eventualität ausschließen: die Beteiligung der Türken an der geplanten EastMed-Pipeline. Und eben die scheint das eigentlich Ziel der türkischen Obstruktion im Mittelmeer zwischen Kreta, Zypern und der Levante zu sein.
Ganz gefährlich wird es laut Thumann, wenn man stärkeren Druck auf Erdogan ausübt. Dann könnte das NATO-Mitglied Türkei zu einer »Blitzoffensive« schreiten und eine griechische Insel kapern, um dieselbe bis in die fernere Zukunft als Faustpfand zu behalten. Man denke nur an den seit mehr als 45 Jahren türkisch besetzten nördlichen Teil der Republik Zypern. Aber wer sagt, dass Griechenland das zulassen oder kampflos hinnehmen würde? Und selbst wenn sich die NATO in einem solchen Falle selbst mattsetzen würde, gäbe es noch andere Partner für die bedrängten Griechen. Außenminister Nikos Dendias hat bereits angekündigt, in diesem Fall einen EU-Verteidigungsfall zu bemühen, der sich wohl aus einem der tausend Unionsdokumente herauslesen lässt. Doch vor allem würden sich die Griechen wohl auf ihre eigenen Fähigkeiten im wohlbekannten Terrain der Ägäis verlassen. Außerdem könnten sie wohl auf die Hilfe Frankreichs, aber auch der mittelmeerischen Verbündeten Zypern, Ägypten und Israel bauen.
Freitag ist der neue Erdogan-Tag
Am Freitag wollte Erdogan – vermutlich nach seinem Mittagsgebet in der Sophienkirche – eine »gute Neuigkeit für die Türken« verkünden. Aus vertraulichen Quellen erfährt man, dass das türkische Bohrschiff im Schwarzen Meer auf Bodenschätze – wahrscheinlich auf Erdgas – gestoßen sei, wie das Handelsblatt schreibt. Daneben hat Erdogan noch eine oströmische Kirche zur Moschee umgeweiht.
Außenminister Schallenberg hatte bereits am vergangenen Freitag nach einem Gespräch mit seinem griechischen Amtskollegen festgestellt, dass die Türkei durch ihre einseitigen Handlungen internationales Recht verletzt. Schallenberg zeigte sich deshalb beunruhigt und alarmiert, als er am selben Tag mit US-Außenminister Mike Pompeo vor die Presse trat. Die Situation könne leicht eskalieren, die EU müsse ihre Haltung gegenüber der Türkei überdenken. Dazu gäben ebenso die Kriegseinsätze in Syrien und Libyen Anlass wie auch die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee. Der naheliegende Schluss Schallenbergs: ein vollständiger Abbruch der Beitrittsgespräche der Türkei mit den Ländern der Europäischen Union.
Man sieht, wie sich in der EU Falken und Tauben in Bezug auf die Türkei gegenüberstehen. Merkel ist die Anführerin der Tauben. Macron und Kurz teilen sich das Banner der Falken. Warum sollten sie eigentlich nicht den Sieg davontragen?