Das Handelsblatt hat am Freitag einen bemerkenswerten Artikel veröffentlicht. Er titelt: „Giorgia Meloni – die kraftvollste Regierungschefin Europas“. Darin wird die These aufgestellt, dass man nicht hätte erahnen können, dass die Römerin einmal eine führende Rolle in der Europäischen Union übernehmen würde. Nun, man hätte auch einfach TE lesen können.
Denn bereits vor zwei Jahren war das Vakuum absehbar, dass angesichts der Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament, aber auch bei den nationalen Regierungen auszumachen war. Italien ist der ruhende Pol des Kontinents, indes Frankreich, Spanien und Großbritannien von einer Regierungskrise zur nächsten schlitterten. In Deutschland ist die Ampel genug mit sich selbst beschäftigt. Tusk hat in Polen zwar die Rückendeckung Brüssels, aber Polen ist weiterhin kein strukturlinkes Land.
Man sollte das nicht lediglich als Form weiblicher Machtausübung verstehen. Meloni führt eine klassische Form italienischer Außenpolitik durch, wie sie über Jahrhunderte Bestand hat, die man als pragmatisch, realistisch oder opportunistisch bezeichnen kann. Sie steht damit in einer historischen Denktradition die von Machiavelli zu Bismarck reicht und, im Gegensatz zu manchen Fantastereien, die eigentliche „rechte“ Denktradition darstellt. Das setzt aber auch voraus, nicht das bloße Tagesgeschäft und die Inszenierung desselben zum Fokus zu erheben, sondern langfristige Strategien zu verfolgen – auch, wenn man diese zuerst nicht erkennen will.
Der Erfolg dieser langfristigen Strategie zeigt sich seit diesem Jahr umso deutlicher. Anders als Polen und Ungarn – oder auch Italien unter der M5S-Lega-Regierung – eröffnet Brüssel keine Sonderverfahren gegen Italien. Trotz Unstimmigkeiten nach der EU-Wahl hat Italien den gewünschten Kommissarsposten bekommen. Trotz der Umbesetzung der RAI und weitgehenden Verfassungsänderungen schweigt Brüssel. Die Mitte-Rechts-Regierung hat es verstanden, Italien umzubauen, außenpolitisch auszustrahlen und dennoch mit der EU nicht in denselben Clinch zu geraten, wie ihn andere konservative Regierungen pflegen.
Im Gegenteil: derzeit ist eher zu beobachten, dass die EU sich Richtung Italien orientiert. Der Flirt von Ursula von der Leyen mit Meloni ist eher ein Eingeständnis, dass selbst die EVP ihre wichtigste Stütze südlich der Alpen sieht. Zwar gibt es entsprechend zur deutschen Brandmauer einen cordon sanitaire im EU-Parlament, der jedoch viel durchlässiger ist – es kommt zu gemeinsamen Abstimmungen der EVP mit Melonis EKR und Viktor Orbáns Patrioten für Europa. Dass die gegenwärtige Migrationspolitik erheblich in einem Hinterzimmer mit italienisch-ungarischer Dominanz vorbereitet wurde, ist kein Zufall. Getrenntes Marschieren und gemeinsames Schlagen ist keine Eigenheit der Linken mehr.
Die EVP ist nicht die CDU, und die übrigen europäischen Partner wollen nicht wie die CDU in der selbstgebauten linken Sackgasse enden – sie suchen nach Manövrierfähigkeit auf dem europäischen Schachbrett, das nicht nur Schwarz-Weiß, sondern mannigfaltige Schattierungen in Grau kennt. Meloni, aber auch Orbán sind Optionen, um nicht ins Schachmatt der europäischen Linken zu geraten. In süd- wie osteuropäischen Staaten sind Green Deal und Verbrennerverbot kein Klima-Thema, sondern bedrohen die wirtschaftliche Existenz von kleinen Unternehmen und Familien.
Dass die EVP vom Verbrennerverbot abrückt, obwohl sie angeblich die linken Stimmen braucht, hat sich jüngst mit der Ankündigung abgezeichnet, dass auch die alten Dieselfahrzeuge weiter fahren dürfen. Und wer will an Zufall glauben, dass in derselben Woche, in der das Albanien-Experiment beginnt, die EU über eine Änderung der Abschiebungspolitik berät? Was Meloni in Italien vor einem Jahr angestoßen hat, kommt jetzt im Domino-Effekt in Brüssel an.
Italien hat sich europaweit bewusst in Deckung gehalten, solange die Wiederaufbauhilfen aus der Corona-Krise noch nicht unter Dach und Fach waren; seit dem EU-Wahlkampf geht die römische Regierung eher in die Offensive. Das begann damit, dass Rom ganz nebenbei ein globales Recht auf Abtreibung von der G7-Tagesordnung strich. Dass die Leihmutterschaft nun nicht nur im eigenen Land, sondern auch außerhalb verboten wird, ist ein einzigartiger Vorgang, der noch Nachahmer finden könnte. Nicht nur darin kommt eine Allianz mit dem „anderen Rom“ auf der gegenüberliegenden Tiberseite zum Ausdruck.
Tichys Einblick hatte bereits vor Monaten darüber berichtet, dass eine langsame Abkehr von der früheren Syrienpolitik stattfindet. Die Kurie ging dabei auf Tuchfühlung; was darauf hindeutet, dass auch die säkulare römische Regierung ein Interesse an einer Änderung hat. Syrien ist ein Schlüsselland in der Flüchtlingskrise, wird aber weiterhin von westlichen Sanktionen gewürgt und Präsident Baschar al-Assad nicht anerkannt.
Transatlantikerin Meloni? Eher gilt das alte Stichwort: Italy first. Meloni hat der – wieder einmal – geschmeidig anberaumten Wende nunmehr Substanz verliehen. Sie hat eine Normalisierung der Beziehungen zu Syrien gefordert. Joe Biden ist in Europa? Egal. Meloni ist heute im Libanon. „Vielleicht bringt es mehr, mit den Akteuren in der Region zu reden als dies untereinander zu tun. Deshalb hat diese Reise für mich jetzt Vorrang“, sagt sie. Die derzeitige Vorsitzende der G7 bleibt den anderen G7-Staaten fern. Scholz, Macron, Biden? Die alten weißen Männer, die bald Geschichte sind, können solange miteinander plaudern, während die Italienerin den nächsten Schritt macht.
Wenn Donald Trump Präsident ist, kann man allerdings sicher sein, dass „Giorgia“ wieder auf Kuschelkurs mit Washington geht. Sie will schließlich eine privilegierte Partnerschaft. Da bietet sich die rechte Römerin besser an als der linke Starmer. Sollte Trump einen passenden Partner suchen, wäre Orbán ideologisch gut, aber das bedeutend größere Italien attraktiver. Dann wäre Italien der bevorzugte Mittler zwischen Alter und Neuer Welt. So die geschmeidige Strategie. Aber so weit hat man jenseits der Alpen mal wieder nicht gedacht.