Giorgia Meloni verliert keine Zeit. Am vergangenen Montag hat der italienische Senat eine große Verfassungsreform verabschiedet, die das Land so stark umbauen soll wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Nur eine Woche nach der gewonnenen EU-Wahl und wenige Tage nach der Ausrichtung des G7-Gipfels. Diese Woche stand bereits die strategische Ausrichtung in Brüssel und Straßburg wieder auf dem Programm. Die Ankündigungen, dass mit der EU-Wahl eine „Phase 2“ ihrer Regierungszeit beginnt, waren wohl keine hohlen Worte.
Bei der G7 hat Meloni international gezeigt, dass man mit ihr rechnen muss. Gegen Widerstände aus Paris und Washington hat sie es durchgesetzt, dass das Recht auf Abtreibung keine Erwähnung findet, sondern nur verklausuliert. Ähnliches gilt für Transgender, die ebenso unter dem LGBT-Deckmantel versteckt bleiben. Für Italien keine unwichtigen Entscheidungen. Hätte Meloni es zugelassen, dass explizit von Abtreibungen und von Transgender die Rede gewesen wäre, dann hätte Rom sich zu einer konkreten Absichtserklärung drängen lassen müssen. Nun kann Meloni daheim erklären, dass Frauenrechte und LGBT Themenfelder seien, die man in den vergangenen Jahren genügend abgegrast hat.
Geschickt und diskret hat Meloni dabei nicht zuletzt Gäste eingewoben, die dem G7-Gipfel einen ganz eigenen Anstrich gaben. Mit den BRICS-Staaten Indien und Brasilien suchte man das Auskommen, ähnlich mit der Türkei, die zwischen dem westlichen und dem russisch-chinesischen Orbit changiert. Offiziell war Papst Franziskus dazu eingeladen, um über die Gefahren der Künstlichen Intelligenz zu sprechen. In Wirklichkeit diente er als Hintermann, um die vorab von Italien boykottierte Erklärung zum Recht auf Abtreibung – vorangetrieben vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron – auch international zu hintertreiben.
Als dann neben Macron auch das Weiße Haus darauf beharrte, die Stellungnahme müsse trotzdem rein, sprach Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida das öffentlich aus, was wohl auch die italienische Delegation unter der Hand äußerte: Der gläubige Katholik Joe Biden könne dies doch gerne in Anwesenheit des Pontifex mitteilen. Die vermeintliche oder echte Katholizität des US-Präsidenten ist schon im letzten Wahlkampf Futter für die Republikaner gewesen. Die italienische Rechte hätte also der amerikanischen Rechte den Ball zugespielt: Seht her, ausgerechnet der fromme Biden also ein weltweiter Abtreibungsbefürworter direkt unter den Augen des Papstes. Danach wurde es überraschend still von US-Seite.
Die Anekdote zeigt eine Rückkehr zur italienischen Diplomatietradition der Renaissance, um nicht zu sagen: einen fast vergessenen Machiavellismus, den Italien angesichts seiner internen Krisen nicht ausspielen konnte, da von den Granden Brüssels abhängig. Dass insbesondere Deutschland und Frankreich es gar nicht gewöhnt sind, dass die Italiener ihre eigenen Vorstellungen artikulieren, hat Meloni erst bei den Verhandlungen letzte Woche feststellen dürfen. Doch die Machtverhältnisse in der EU haben sich längst verschoben: Olaf Scholz ist ein wandelnder Toter, Emmanuel Macron versucht sich mit Neuwahlen Luft zu verschaffen.
Dass es zwischen Meloni und Macron knirscht, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr. Offenbar spekuliert man in Rom darauf, dass bald ein RN-Mann, namentlich Jordan Bardella, als nächster Premierminister unter Macron agieren könnte, mit dem man über Bande spielt. Selbst wenn nicht, so dürfte das französische Parlament noch unregierbarer sein als zuvor schon. Ob Marine Le Pen oder Giorgia Meloni dabei direkt zusammenarbeiten, ist eine zweitrangige Frage: in Italien arbeiten die drei rechten Parteien geräuschlos zusammen, und es ist wohl Melonis Strategie, eher getrennt zu marschieren und gemeinsam zu schlagen, sodass etwa die nunmehr von Le Pen dominierte ID-Fraktion und die von Meloni geleitete EKR-Fraktion mit verschiedenem Profil auch verschiedene Wähler erreichen können.
Zusammengefasst: Scholz und Macron sind aus Melonis Perspektive Probleme auf Zeit. Sie muss diese lediglich überleben. Während die italienische Rechte gestärkt aus der letzten EU-Wahl hervorgeht, wird man auch südlich der Alpen die Wahlen in Ostdeutschland und die Parlamentswahlen in Frankreich genau wahrnehmen, wo lediglich Koalitionen einer „Nationalen Allianz“ der bestehenden Regierung das Überleben sichern. Die Instabilität gleich mehrerer wichtiger EU-Staaten führt umso mehr dazu, dass man in Brüssel eher mit, denn gegen Italien regieren will, und Meloni wird sich diese Avancen mit einem starken EU-Kommissar aus den eigenen Reihen versüßen lassen wollen.
Man muss daher diese Vorgänge auf dem Parkett der G7 wie auch der EU in den Kontext der internen italienischen Verfassungsänderungen stellen. Linke Politiker und Medien – inner- wie außeritalienisch – versuchen bereits die angestrebten Weichenstellungen als autoritären Griff nach der Macht im Sinne Benito Mussolinis zu diffamieren. Wie wenig Erfolg sie damit haben – das zeigt sich an dem fehlenden Eingreifen Brüssels. Kein Verfahren wie gegen Polen; keine Strafen wie gegen Ungarn. Die Italienerin hat sich unentbehrlich gemacht. Und das macht sie frei, in ihrer Heimat zu schalten und zu walten, ohne ein Eingreifen einer Troika oder von NGOs angezettelte Aufstände – erinnern Sie sich noch an die hochgejubelten „Sardinen“? – fürchten zu müssen.
Ohne Hausmacht kein Kaisertum: unter diesem unausgesprochenen Motto versucht Meloni, die wie kaum ein anderer Regierungschef auf die europäische Ebene schielt, sich in Italien eine stabile Basis zu verschaffen. Ihre Partei, die Fratelli d’Italia, haben dabei nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie auf die Einführung eines präsidentiellen Systems nach französischem oder US-amerikanischen Vorbild pochen. Die IV. Französische Republik hat schließlich ihre eigene Instabilität mit der von Charles De Gaulle instituierten V. Republik abgestreift, und auf ganz ähnliche Art und Weise möchte sich die Italienische Republik (die selbst nie so ganz weiß, ob sie noch in der II. Republik steckt oder in der III. Republik angekommen ist) mit einem halben Jahrhundert Verspätung reformieren.
Melonis Reformen sind deswegen keine Ausnahme, sondern eine beständige Konstante seit dem Zusammenbruch des Parteiensystems zu Beginn der 1990er. Zeitweise hatte es unter Romano Prodi und Silvio Berlusconi eine Zeit gegeben, in der sich zwei ideologische Pole gegenüberstanden. Anders als vermutet war diese Periode nur von kurzer Dauer. Die Rechte und die Linke scheiterten beide mit ihren Verfassungsänderungen, die Italien endlich in ruhigere Fahrwasser bringen sollten. Über einen letzten Reformversuch im Jahr 2016 stürzte Matteo Renzi, als die Italiener diesen in einem Referendum ablehnten.
Es ist dabei festzuhalten: die so „umstrittene“ Mehrheitsprämie, die die größte Partei im Parlament erlangt, um stabilere Regierungen zu gewährleisten, hat nicht nur die rechte Regierung Berlusconi, sondern auch die linke Regierung Renzi vorgeschlagen. Ähnliches gilt für eine Stärkung des Föderalismus im italienischen Zentralstaat. Es handelt sich demnach nicht um ideologische oder autoritäre Tendenzen, sondern um einen Konsens – nur, dass die Linke sich nun distanziert, da sie in der Opposition sitzt. Dass die Stärkung der regionalen Autonomie nicht nur ein Anliegen der Regierungspartei Lega ist, sondern zugleich vieler kleiner linker Regionalparteien, weiß man auch beim sozialistischen Partito Democratico. Er hat über Jahre mit der Südtiroler Volkspartei zusammengearbeitet.
Der italienische Premier soll außerdem in Zukunft direkt gewählt werden, seine Position wird gestärkt, seine Amtszeit zudem auf zwei Mandate begrenzt. Durch die Direktwahl soll auch die demokratische Legitimation betont werden – denn eine Vielzahl von italienischen Ministerpräsidenten wurde in den vergangenen fünfzehn Jahren ohne Wahl ausgetauscht, ausgekungelt oder installiert. Den brüchigen Regierungen soll so ein Riegel vorgeschoben werden. Laut den Fratelli d’Italia haben die dauernden Regierungskrisen den italienischen Staat bisher 265 Milliarden Euro gekostet. Seit dem Zweiten Weltkrieg war eine italienische Regierung durchschnittlich 414 Tage an der Macht.
Für eine Verfassungsänderung bedarf es – ähnlich wie in Deutschland – einer Zweidrittelmehrheit. Die wird Meloni jedoch im italienischen Abgeordnetenhaus kaum erreichen können. Ähnlich wie Renzi wird demnach auch Meloni einer Volksabstimmung nicht ausweichen. Wie ihr Vorgänger würde sie sich von einem Negativ-Votum nicht erholen können. Aber anders als Renzi geht Meloni mit einem starken Rückenwind in diese Entscheidung hinein. Sollte sie es schaffen, das Referendum für sich zu entscheiden, dürfte auch ihre Wiederwahl ungefährdet sein. Sie könnte Italien wie auch die EU stärker nach ihren Vorstellungen umbauen als zuvor.