Tichys Einblick
Lesbos

Maximale Polizeipräsenz und brodelnder Widerstand

Auf Lesbos bemüht sich ein Polizistenheer, die wild kampierenden Migranten von der Straße einzusammeln. Derweil glauben viele Einheimische, die Stunde sei da, sich von der zusätzlichen Last zu befreien. Auch der Bürgerschutzminister kündigt die vollständige Entlastung von Lesbos an – bis Ostern 2021.

imago images / ANE Edition

Noch nicht einmal die Griechen – wenn sie nicht gerade auf Lesbos leben – kümmern sich mit vergleichbarer Inbrunst um die Moria-Flüchtigen wie die deutsche Linke. In den Abendnachrichten rückt das Thema immer weiter nach hinten und wird nur noch kursorisch abgehandelt. Viel wichtiger ist der Konflikt mit der Türkei, der durch den Abzug der »Oruc Reis« in einer neue Phase eingetreten ist. Bilaterale Gespräche kündigen sich an. Diplomatische Salven werden über die Ägäis hinweg ausgetauscht, aber seit Mike Pompeo die Türken zur Ordnung rief, ist der Weg an den Verhandlungstisch geebnet.

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Inzwischen sind neun Einheiten der Bereitschaftspolizei, die sonst bei Unruhen eingesetzt wird, auf Lesbos angekommen. 70 Polizistinnen wurden eigens aus Athen eingeflogen, um sich um die Frauen und Kinder zu kümmern. Am Donnerstagmorgen begannen die Polizisten eine Einsammelaktion und konnten so angeblich 1.200 Migranten nach Kara Tepe geleiten. Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis nannte die Operation eine »humanistische Pflicht«, man bewege sich von der Unsicherheit hin zu einer – auch gesundheitspolitischen – Sicherheit, von der Unordnung zur Ordnung.

Allerdings dürften damit immer noch knapp 10.000 Migranten wild auf der Insel kampieren. Einheimische berichten, dass sie sich weiter in das Inselinnere zurückziehen, um nicht von der Polizei ergriffen zu werden. Das wird offenbar noch einiges an »Kämmarbeit« für die Polizei sein in den kommenden Tagen und Wochen. In der angespannten Lage kommt es natürlich immer wieder zu Auseinandersetzungen unter den wild Kampierenden, die rasch mit Knüppeln und Eisenstangen ausgetragen werden. Nach dem großen Feuer wurden auch gefährliche Waffen – wie Harpunen oder Speere – sichergestellt, die wohl zu den verbrecherischen Banden gehören, welche sich im Lager gebildet hatten. Zum anderen haben sich die Kampierenden offenbar selbst mit Nahrungsmitteln versorgt und frisieren einander auch schon eifrig unter freiem Himmel. Der Rasierapparat dazu muss irgendwoher gekommen sein.

Die Insulaner lieben noch immer den Widerstand

Inzwischen möchte man fast meinen, das alte Lager Moria sei von der griechischen Regierung angesteckt worden. Denn für sie könnte es gerade nicht besser laufen. Im Handumdrehen ist ihr nun gelungen, was sie vergeblich für mehr als ein halbes Jahr versucht hatte: Ein neues Lager ist errichtet und bestens von der Polizei bewacht. Langfristig soll das Lager von Kara Tepe ein eigenständiges Revier bilden, das unabhängig von der Inselpolizei agiert. 300 Polizisten sollen ständig dort sein.

Die Insulaner freilich sind alles andere als begeistert. Man kann es sich vorstellen: 10.000 unsichere Gesellen, die auf den Straßen kampieren, sich in Wäldern und Feldern verteilen, gelegentlich bis in die Städte vorstoßen. Das ist nicht ein Problem, das sind dutzende. Einige stellen schlicht und realistisch fest, dass sie in der gesamten Angelegenheit offenbar keine Stimme haben. Andere rufen unverdrossen zum Widerstand auf. Jetzt sei die Gelegenheit gekommen, durch einen Massenaufstand den Abtransport der Migranten zu erwirken. Doch zu einem Generalstreik hatte man sich in den vergangenen Tagen – unter anderem wegen der Pandemie – nicht entschließen können. Was bleibt, sind Äußerungen des Unmuts und Ankündigungen, sich all das für den nächsten Wahlzettel zu merken.

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Ein Schiff solle kommen und die Migranten wegfahren, am besten in die nahe Türkei, wo sie hergekommen sind, ist eine populäre Forderung. In welches Lager man sie auch steckt, so meint mancher, sie würden es ja doch wieder anzünden. Einige glauben verstanden zu haben, welche Sprache ihre Regierung einzig spricht: »Wir müssen eine Heidenunordnung anrichten, eine andere Sprache verstehen sie nicht.« Nur der Armee, die das neue Lager in wenigen Tagen mitsamt Verwaltungs- und medizinischen Versorgungsgebäuden aufbaute, gebühre Anerkennung – auch wenn sie diese Arbeit eigentlich nicht hätte tun sollen. Immerhin ein differenzierter Gedanke. Man möchte fast von Dialektik sprechen.

Die Grundstücke, auf denen das neue Zeltlager errichtet wurde, hat die griechische Regierung für fünf Jahre gemietet. Auch das ein Kritikpunkt der Einheimischen, die auf eine möglichst »kurzfristige Unterbringung« hofften. Viele Insulaner beklagen denn auch den »Verrat« ihrer Mitbürger. Zudem sei die Grundfläche des neuen um einiges größer als die des Moria-Lagers. Vor einigen Jahren hatte man auf dem Gelände einen Hafen errichten wollen, doch archäologische Funde verhinderten das. »Eben den Ort, den sie nicht zum Hafen machen konnten, machen sie nun zum Gefängnis. ILLEGAL. Par ordre de Mufti. Schamlos …«, kommentierte das aufgebrachte Inselblatt Sto nisi.

Der Ärger der Insulaner bewegt sich auf einer nach oben offenen Skala. Dagegen hat Merkel am Montag die Einrichtung eines neuen Aufnahmezentrums auf Lesbos begrüßt. Es müsse freilich europäischen Vorgaben folgen. Premierminister Mitsotakis bestätigte im Gespräch mit dem EU- Ratspräsidenten, dem Belgier Charles Michel, auch brav, dass das neue Zentrum höhere Standards aufweisen werde als das alte Lager bei Moria. Materiell kann man das noch nicht ganz erkennen. Alles wirkt dann doch noch sehr provisorisch. Den strikten Schutz der griechischen (und europäischen) Grenzen will Mitsotakis sowohl am Evros als auch in der Ägäis fortführen.

Langfristig will auch Athen die Insel entlasten

Auf der anderen Seite plant die Regierung weiter die Entlastung der Ägäis-Inseln, die schon seit den Inselprotesten vom Frühjahr betrieben wurde. Wie Bürgerschutzminister Chrysochoidis nun dem Guardian sagte, sollen bis Weihnachten 6.000 Migranten von Lesbos aufs Festland gelangen. Bis Ostern 2021 sollen gar alle Asylbewerber Lesbos verlassen haben: »Die Menschen dieser Insel haben viel erleben müssen. Sie waren sehr geduldig.«

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70 Prozent der Ex-Moria-Bewohner seien Afghanen und sollen – so steht es im Guardian – in den kommenden Monaten den Flüchtlingsstatus sowie Reisepapiere erhalten. Das ist also der Trick, damit Deutschland anerkannte Asylbewerber von Lesbos einführen kann: Die Verfahren werden einfach maximal beschleunigt und vereinfacht. Dass die anerkannten »Flüchtlinge« sich qualitativ von den anderen – denen ohne Asyl- oder Flüchtlings- oder Duldungsstatus – unterschieden, erscheint wenig plausibel.

Man sieht, das griechische Asylrecht besitzt hier noch eine durchaus kritikwürdige Großzügigkeit. In letzter Konsequenz wirkt sich das aber nicht viel anders aus als die hiesige Gesetzgebung. Und wenn Mitteleuropa von der Uckermarck bis tief nach Luxemburg hinein nach Reisewilligen ruft, dann drückt die griechische Regierung am Ende eben ein Auge zu.

Chrysochoidis gab sich jedenfalls durchaus dankbar. Ein Problem weniger, wird er sich gedacht haben. »Das ist eine sehr großzügige, sehr mutige Geste. In ganz Europa hat jedes Land seine eigenen inneren Probleme, was diese Sache angeht, aber ich denke auch, dass die EU-Partner sehen können, dass wir die Außengrenze des Blocks schützen. Wir haben den Zustrom minimiert.«

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