Tichys Einblick
Le Pen als letzte Hüterin der Republik?

Macrons Brief an die Franzosen: Keiner hat gesiegt, also ich

In einem Brief an die Franzosen gibt Macron zu, dass es keinen Sieger bei den Parlamentswahlen gab. Genauso wollte er es. Denn nun kann der Präsident mit Ablaufdatum Schiedsrichter spielen. Dass alte Weggefährten ihn (und seine Partei) schon vom Spielfeld nehmen, kümmert ihn dabei kaum.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Stephanie Scarbrough

Diese Idee hat sogar Marine Le Pen in Rage gebracht. Es geht um den Gedanken des ehemaligen Abgeordneten Adrien Quatennens („Aufsässiges Frankreich“, LFI), mit einem „Marsch auf Matignon“ die Ernennung eines linken Premierministers zu erzwingen. Le Pen sieht darin einen „nicht hinnehmbaren Aufruf zum Aufstand“ und erkennt weitere „Drohungen und Einschüchterungen“ (offenbar aus der linken bis linksextremen Ecke), die das derzeitige politische Klima im Land bestimmen. Doch nicht überraschend ist auch: Die gerade wiedergewählte Chefin einer drastisch vergrößerten Fraktion macht vor allem Staatspräsident Emmanuel Macron für die schwierige Situation verantwortlich, in der ganz Frankreich nun steckt.

Macron habe zugelassen, ja, begünstigt und ermöglicht, dass diese linken Abgeordneten gewählt wurden. Das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel zwischen der radikalen, antisemitischen, gelegentlich manifest hamasfreundlichen Linken und der zwar wohlanständigen, aber aussterbenden Macron-Mitte ist international wohl noch gar nicht in seiner ganzen Skandalträchtigkeit erkannt. Die „demokratische“ Mitte Frankreichs zog es vor, einem Jean-Luc Mélenchon oder auch dem Antifa-Gefährder Raphaël Arnault den Weg ins Parlament zu ebnen. Die Rücktritte mélenchonistischer Kandidaten nahm man zugleich dankend an. Das ist etwa so, wie wenn die wohlanständigen deutschen Parteien der Mitte wie FDP, SPD, Grüne oder CDU/CSU offiziell mit Antifanten oder entschiedenen Islamjüngern paktieren würden… Ach so, vielleicht tun sie es ja schon. Fußnote geschlossen.

In Frankreich führte dieses Spiel der Macron-Mitte zu einer einfachen Mehrheit der Linken im Parlament, deren Gemeinschaftsfraktion wiederum von den radikalen Mélenchonisten dominiert sind, die übrigens auch weitgehend EU-skeptisch sind. Für Le Pen ist der Skandal damit freilich nicht zu Ende: Denn die linke Volksfront (NFP) bildet nach Stimmen und Sitzen weiterhin die Minderheit, wolle aber dennoch „die Macht ausüben“ und den Bürgern „ihr Programm aufzwingen“, so Le Pen. Jener „quasi aufrührerische“ Aufruf, sich die Regierung wo nötig auch „mit Gewalt zu nehmen, so haben wir es verstanden“, sei mithin der „Sturm aufs Kapitol“ der französischen Linken, sagte Le Pen in klarer Fortführung ihres Mitte-Kurses der „Entdiabolisierung“ ihrer eigenen Partei. Das Rassemblement wird so zum Hüter der Verfassung dieser Fünften Republik und scheint immer weniger in die antirepublikanische Kiste zu gehören, in die Macron es partout stecken will.

Republikanische oder rechte Mehrheit?

Wahrscheinlich wird bald sehr viel mehr von der Uneinigkeit der Linksfront die Rede sein als von ihrer Kampfbereitschaft. Macron ist aber noch nicht fertig mit den linken Umtrieben, die er doch selbst eingeladen hat. Nun schrieb der Staatenlenker in einem – wie gewohnt – pompösen Brief an die Franzosen, die von ihm ausgerufenen Neuwahlen seien ein „Zeichen für die Vitalität unserer Republik“ – offenbar, weil man die demokratische Entscheidung der Bürger noch rechtzeitig manipulativ umbiegen konnte.

Der Präsident beglückwünscht sein breiteres Lager (von Jean-Luc Mélenchons LFI bis zu Édouard Philippes Horizons), man habe die „extreme Rechte“, die im ersten Wahlgang auf elf Millionen Stimmen gekommen sei, zurückgedrängt. Am Ende habe „keiner den Sieg errungen“. Dieses Eingeständnis ist freilich besonders wichtig für den Präsidenten. Denn es weist ihn als Schiedsrichter aus, der nach dem Unentschieden einen Elfmeter ausrichten muss.

Doch hier kommt schon das zweite Stützrad-Argument: Allein die „republikanischen Kräfte“ in ihrer Gesamtheit hätten laut Macron eine absolute Mehrheit gewonnen. Macron ignoriert also die einfache Mehrheit der Wähler (noch im letzten Wahlgang 36 Prozent), die eine grundlegende Änderung der Politik in Richtung des Rassemblement national wollte. Er ignoriert auch die rechte Mehrheit, die sich bei einem einfachen Blick auf die neue Nationalversammlung ergibt, wo der Mittelstrich irgendwo in der linken Hälfte liegt (siehe den Antwort-Tweet auf Quatennens oben).

Die politische Mitte des Landes liegt im Zweifel in der Mitte der Präsidentenkoalition Ensemble, in der sich Linke (Borne, auch Attal) wie Rechte (Ex-Premier Philippe, Innenminister Darmanin) treffen. Der rechte Teil des politischen Spektrums überwiegt – und könnte dennoch gezwungen sein, einer Linksregierung Platz zu machen.

Daneben bemerkt Macron natürlich nicht mehr, wie sehr er die Idee der Republik eigentlich beschädigt, wenn er sie zum Eigentum einer kleinen Gruppe von Parteien und politischen Kräften macht. Nichts anderes gilt in Deutschland für diejenigen, die die „Demokratie“ zu ihrem Alleinbesitz erklärt haben und damit Idee und Praxis der Demokratie in Deutschland beschädigen und dem Volk (griechisch demos) zumindest teilweise den Dialog verweigern.

Eine Mehrheit gegen Macron?

Macrons Satz, in dem er als Präsident der Republik die Anerkennung der „republikanischen Institutionen“ verlangt, richtet sich aber vor allem gegen die Linke. Denn Marine Le Pen und Jordan Bardella haben stets, bis in den Habitus hinein, klar gemacht, dass sie keine Revolution anstreben, sondern sich genau die Anerkenntnis der Institutionen der Fünften Republik auf die Fahnen geschrieben haben.

Die Koalition, die Macron nun bauen will, soll „solide und notwendigerweise plural“ sein. Dieses Wort (pluriel, „vielfältig“) hatte vor Tagen schon Premierminister Attal benutzt. Macron nimmt es auf und signalisiert damit den Franzosen, aber mehr noch den Parteiführern, dass er keine Regierung mit einheitlicher Färbung akzeptieren will. Das wiederum ist aus seiner Sicht logisch, weil seine eigenen Truppen inzwischen von 250 auf 150 Sitze geschrumpft sind und keine Hoffnung mehr auf eine „einfarbige“ Regierung machen.

Ein einstiger Weggefährte Macrons hat das Verdikt über dessen Partei und Koalition gesprochen. Immer mehr kündigt sich an, dass ohne Macrons Teilzeit-Charisma nicht viel von der Partei Renaissance und dem Wahlbündnis Ensemble bleiben wird. Gilles Le Gendre war einmal Chef der Macron-Partei LREM, bevor sie ihren Namen in Renaissance änderte. Für Le Gendre ist die Macronie „beendet, vorbei“. Als „eine Kraft, die das Land im Rahmen einer kohärenten Agenda umgestaltet“, sei Renaissance heute tot.

Le Pen: Keine Duldung für Minister von Grünen oder LFI

Vor allem eines habe sich überlebt: das „Zur-gleichen-Zeit“ (en même temps), das Macron stets pflegte, dieses Sowohl-als-auch von Links und Rechts, Konservativ und Progressiv, die Idee der Überschreitung klassischer politischer Lagergrenzen. Am Ende wäre das Verschwinden dieses speziellen Pols wohl auch besser für das Land. Denn man kann gerade sehen, wie das nur um Macron gruppierte Bündnis – vergleichbar einer künstlich angelegten Düne im Gezeitenstrom – eine Mehrheitsbildung verhindert. Le Gendre geht noch weiter und sagt: Die einzige „Koalition, die es heute gibt, ist eine Koalition gegen den Präsidenten der Republik“. Aber die gibt es eben auch nicht, zumindest wenn man das RN von einer Regierung der Rechten ausschließt. (Und das haben Bardella und Le Pen in weiser Voraussicht selbst getan.)

Die Republikaner haben nun angekündigt, jede Regierung der Linksfront mit einem Misstrauensvotum zu konfrontieren. Dagegen sagte der Generalsekretär der RN-Fraktion, Renaud Labaye, vom RN werde es kein Misstrauensvotum um seiner selbst geben, sondern nur nach Prüfung einer Regierung, ihrer Politik und Gesetzestexte. Aber diese Aussage hielt nicht lange. Schon zwei Stunden später stellte Marine Le Pen klar, dass jede Regierung mit Ministern von LFI oder den Grünen ein Misstrauensvotum des Rassemblement erwarten müsse.

Jordan Bardella ging sogar noch weiter – oder ist das nur eine sprachliche Nuance? – und will gegen jede „Minderheitsregierung des NFP“ (das heißt der linksgrün-radikalen „Neuen Volksfront“) stimmen. Andernfalls, so Bardella, würden „deren Maßnahmen in den Bereichen Wirtschaft, Landwirtschaft und Migration das Land ins Chaos stürzen“. Le Pen und er sind sich einig: „Es darf keine Nachgiebigkeit gegenüber der extremen Linken geben.“

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