Es war die erste Kabinettssitzung nach der „Rentrée“, der quasi zeremoniellen Rückkehr der Franzosen aus dem großen Sommerurlaub. Zurückgekehrt ist auch Emmanuel Macron aus der Festung von Brégançon, dem Sommersitz des französischen Präsidenten, und er kehrte als alter Bekannter zurück. Der im April nur knapp wiedergewählte Macron will wieder in die Offensive kommen und versucht nun, auf der zunehmenden Gas- und Inflationskrise zu surfen, die nicht nur Frankreich in einen „Wutwinter“ führen könnte.
Zu Beginn der Sitzung sagte Macron, nie um große Worte und eine breitere Perspektive verlegen: „Ich glaube, wir erleben derzeit eine große Wende, einen großen Umbruch, zunächst weil wir nicht erst seit diesem Sommer, sondern schon seit mehreren Jahren das Ende des Überflusses erleben.“ Zum anderen erlebe man auch in der internationalen Politik durch den Ukraine-Krieg heute ein „Ende der Sorglosigkeit“.
Das Ende von allem? Macron surft auf der Krisenwelle
Die Pariser Kommentatoren rätseln nun, was Macron genau mit jenem „Ende des Überflusses“ gemeint haben könnte und auf welche Opfer er die Franzosen dadurch vorbereiten will. Die Antwort scheint aber eindeutig: Zu den schon jetzt bestehenden Wohlstandsverlusten durch Inflation, Corona und Krieg will Macron noch weitere Belastungen hinzufügen, die seinem altbekannten, für Frankreich ziemlich neuen Programm entsprechen. Man könnte sagen, der Präsident will sich von den drei, vier oder fünf Reitern der Apokalypse nicht beirren lassen – er gibt auch dem eigenen, müde gewordenen Gaul die Sporen.
Das entstehende Gesamtbild erscheint in der Tat als politische Apokalypse mit Ansage. Für den Herbst erwarten einige bereits den „gesellschaftlichen Krieg“. Denn schon jetzt kommen viele Franzosen nicht mehr klar mit ihrem Einkommen. Die gestiegenen Preise zwingen zum Abbau des eigenen Lebensstandards, und das ist zu allen Zeiten und überall eine explosive Sache. Der Generalsekretär der größten französischen Gewerkschaft CGT, Philippe Martinez, sprach im Fernsehsender BFM TV von einer „schiefen Botschaft“ Macrons: „Für viele Franzosen sind es harte Zeiten, die Opfer sind schon da.“ Gegen neue Opfer werde man opponieren. Auch die Querfront der Gelbwesten dürfte sich dann erneut formieren und die Temperatur bis zum Siedepunkt erhöhen.
Und noch etwas apokalyptischer: Das „Ende der Selbstverständlichkeiten“ sei gekommen. Und das ist immerhin richtig: Die Annahme, dass sich die liberalen Demokratien im internationalen Wettbewerb durchsetzen werden, ist etwas weniger wahrscheinlich geworden in diesen Monaten. Und daraus folge für alle jene, die so etwas besaßen, das „Ende der Sorglosigkeit“. Worauf wiederum – wie schon in Bormes – der Satz folgte: „Unsere Freiheit hat einen Preis, und wenn man sie verteidigen muss, dann erfordert das manchmal Opfer.“
All das sagte Macron in einer dieser gesitteten Kabinettssitzungen, bei denen die Minister ihrem obersten Instrukteur gegenüber und zur Seite sitzen und sich auf das Umsetzen der gegebenen Marschroute zu konzentrieren scheinen. Doch wie setzt man diesen Aufruf zum kollektiven „Opfer“, zum Kampf um die eigenen „Freiheit“ durch das Erdulden des Mangels um? Offenbar wird man auch in Frankreich bald jene Durchhalteparolen ans Wahlvolk weitergeben, die auch hierzulande aus dem politischen Berlin dröhnen. Das Vorantreiben seiner wirtschaftsliberalen Agenda wird in diesem Umfeld schwieriger für Macron. Aber er wird es versuchen, und das erfordert einen gewissen Schneid.
Die Realität wirft Macron die Fenster ein
Im idyllischen Bormes-les-Mimosas hatte Macron auch den folgenden Kommentar zum Ukraine-Krieg formuliert: „Die Gespenster des Revanchismus, die eklatanten Verletzungen der staatlichen Souveränität, die unerträgliche Missachtung der Völker und der Wille zum Imperialismus tauchen aus der Vergangenheit auf, um erneut vom Alltag unseres Europas, unserer Nachbarn und Freunde Besitz zu ergreifen.“ Auch das gehört gewissermaßen zu Macrons Gemäldehintergrund, vor dem er sein eigenes Handeln inszenieren will.
Doch viele Franzosen fühlen sich schon seit langem in unerträglicher Weise von ihrem Präsidenten missachtet. Seiner Mehrheit bei den Präsidentschaftswahlen entspricht vermutlich keine überzeugte Mehrheit im Volk. Seit er zudem die parlamentarische Mehrheit in der Nationalversammlung verlor, zeigen sich die Spuren der widrigen Realität auch direkt im politischen Leben des Landes. Diese Realität wirft ihm gerade mit Backsteinen die Fenster ein. Mehrere Erfolge konnte die „rechte“ Seite des Parlaments so bereits einfahren. Teils griff auch die Hufeisentheorie der „Ränder“, etwa beim jüngsten Pandemiegesetz, das von France Insoumise, Rassemblement National und einigen Abgeordneten der Républicains ordentlich zurechtgestutzt wurde.
In seiner Rede in Bormes versuchte Macron, die Franzosen hinter ihm als Führungsfigur zu vereinen, gegen den äußeren Feind Russland. Putin benutze das Gas als „Kriegswaffe“, und das geschehe auch in Folge der europäischen Sanktionen. Macron rief alle Beteiligten auf, zu einer „Logik der Nüchternheit“ in diesen Fragen zurückzukehren. Das zielt auf Moskau, das den Gashahn derzeit nach Belieben zu- oder aufdreht, aber auch auf die Europäer, die sich, geht es nach Macron, etwas flexibler in Fragen der Sanktionen zeigen sollten.
Doch der Herbst droht für den Präsidenten und seine Regierung so oder so, mit oder ohne russisches Gas ein heißer zu werden. Die Inflation erreicht wie in Deutschland so auch in Frankreich derzeit Hochstände, und das dürfte so bleiben, auch wenn der Krieg in der Ukraine morgen enden würde. Die Zeche, die die Eurozonen-Bürger bezahlen, ist älter als dieser Krieg und wird in den kommenden Jahren unbarmherzig abgetragen werden. Aktuelle Belastungen kommen noch hinzu. Doch die Entwertung des EZB-Geldes grundiert alle bestehenden Inflationstendenzen und kommenden Inflationsgefahren.
Macron, im Negativen eingebunkert
Die sicher kommenden Opfer versucht Macron nun seinerseits als Folgen des Kriegs zu präsentieren. Laut dem Figaro sagte er Journalisten noch vor Beginn der Zeremonie in Bormes: „Wir müssen für unsere Energie-Souveränität arbeiten, um die Franzosen und unsere Betriebe durch diesen Krieg zu begleiten.“
Doch tatsächlich werden die Franzosen schon bald vielfältige Gründe haben, um sich zu erregen. Und es wird dann wohl weniger ums „Begleiten“ gehen als um neue Konflikte, die in Frankreich traditionell auf der Straße ausgetragen werden. In der Wirtschaftspolitik ist Macron noch keineswegs am Ende mit seiner für Frankreich „neoliberalen“ Agenda. So will er – vielleicht das anspruchsvollste aller Ziele – eine Art Hartz-Reform im Hexagon durchsetzen, angeblich mit echtem Einsparpotential, nicht kostenneutral wie noch bei Schröder. Arbeitslose Franzosen sollen durch die Reform vermehrt in die Erwerbsarbeit gedrängt werden. Nächsten Sommer soll zudem eine Reform der Rentenversicherung in Kraft treten, gegen die Linke, Grüne und Gewerkschaften schon jetzt mobilmachen.
Seinen politischen „Bunker“ müsste Macron allerdings entschlossen verlassen, um seine wirtschaftspolitischen Reformen zu erreichen. Die Reform des Arbeitsmarktes und der Pensionen wird er wohl, wenn überhaupt, nur mit Republikanern und Rassemblement National beschließen können. Die Sozialisten und Grünen sind dazu zu schwach, die Mélenchonisten und Grünen zu radikal. Insofern wäre es vielleicht gut, wenn Macron neben all der apokalyptischen Rhetorik das Konstruktive wiederentdeckt, den Kriegerhabit wieder ablegt und nach Lösungen sucht.