Politik ist ein kompetitives Geschäft, das wissen wir alle. Meist geht es primär darum, Wahlen zu gewinnen und irgendwie an der Macht zu bleiben und dabei das eigene Land nicht allzu sichtbar zu versenken, um auch noch in den Geschichtsbüchern eine leidlich gute Figur zu machen. Aber offenbar gibt es auch einen Wettkampf darum, wer am wirkungsvollsten den eigenen Untergang inszenieren kann, anders kann man sich manche Entwicklungen der letzten Wochen und Monate in Europa kaum erklären.
Offenbar ist es für viele Politiker wichtig, dass wenn ihr Ende naht, sie mit einem großen Knall die Bühne verlassen, oder doch zumindest ein so komplettes Debakel hinterlassen, dass man sie lange nicht mehr vergisst. Denn am Ende enden, scheitern ja ohnehin alle politischen Karrieren, wenn der Tod oder ein anderer Zufall ihnen nicht ein vorzeitiges Ende setzt, wie der britische Konservative Enoch Powell einmal treffend bemerkte.
Favorit in diesem edlen Wettbewerb war bis vor kurzem der britische Premier Rishi Sunak. Trotz katastrophaler Umfragewerte entschloss er sich, vorzeitig das britische Parlament aufzulösen. Man muss einräumen, dass spätestens Mitte Dezember ohnehin reguläre Wahlen stattgefunden hätten, aber vieles hätte dafür gesprochen, doch bis zum Herbst mit der Auflösung des Unterhauses zu warten, da eine wirtschaftliche Erholung – die sich abzeichnete – die Stimmung vielleicht aufgehellt hätte. Aber nein, Sunak war ein Ende mit Schrecken lieber als ein Schrecken ohne Ende. Sunak selbst, das darf man nicht vergessen, hatte bis gestern noch nie einen Wahlkampf für die Tories geführt. An die Spitze der Regierung gelangte er nicht durch einen Wahlsieg, sondern durch geschickte Anpassung an die jeweils dominanten Strömungen in der Partei und durch seine unbestreitbare Kompetenz in Finanzfragen sowie durch die Selbstdemontage seiner Rivalen Johnson und Truss.
Persönlich ist Sunak allerdings die Verkörperung des elitären Technokraten, dem die Welt der normalen Bürger gänzlich fremd ist. Zwar stammt er nur aus der oberen Mittelschicht – sein Vater war Arzt, seine Mutter Apothekerin –, besuchte aber eine führende Privatschule und die Eliteuniversitäten Oxford und Stanford. Schon durch seine Tätigkeit als Fondsmanager sehr wohlhabend geworden, gehört er durch seine Heirat mit einer indischen Milliardärstochter zu dem sehr kleinen globalen Club von Superreichen. Das spricht nicht per se gegen ihn, kommt aber bei vielen britischen Wählern, deren Lebensstandard in den letzten Jahren gesunken ist, offenbar nicht gut an.
Diese Unterhauswahl könnte das Ende der britischen Konservativen als Partei einleiten
Wenn es seine Absicht war, seine Partei, die Tories, ins ewige Nirwana zu führen, so dürfte er gute Chancen haben, sein Ziel zu erreichen, dann manche Umfragen sehen die Konservativen nur noch bei weniger als 80 Sitzen (von zur Zeit 379). Grund dafür ist nicht nur die relative Popularität der Labour-Partei, sondern auch der Umstand, dass den Konservativen mit Reform ein Konkurrent im eigenen Lager entstanden ist. Reform wird angeführt vom alten Volkstribun Nigel Farage und appelliert an jene Wähler, denen die Tories kulturell zu liberal geworden sind und zu viele Zugeständnisse an eine postnational denkende, von Schuldkomplexen gequälte obere Mittelschicht sowie an die identitätspolitischen Forderungen ethnischer Minderheiten machen. Es gibt Umfragen, die Reform zutrauen, fast so viele Stimmen wie die Tories auf sich zu vereinen, auch wenn die neue Partei wohl bestenfalls eine Handvoll von Mandaten erringen wird – das ist nun einmal die Logik des englischen Wahlrechts.
Ob die Tories sich von der schweren Wahlniederlage, die sie diese Woche vermutlich erleiden werden, in absehbarer Zeit wieder erholen können, ist ganz unklar. Zu groß sind dann vermutlich auch die Verluste beim politischen Spitzenpersonal. Aber auch, wenn eine Labourregierung sicherlich gnadenlos ihr identitätspolitisches Programm mit einer „Dekolonialisierung“ des Bildungswesens und einer umfassenden positiven Diskriminierung von Minderheiten in allen gesellschaftlichen Bereichen durchziehen wird, finanz- und außenpolitisch wird diese Regierung leidlich berechenbar blieben, die wirtschaftliche Stabilität des Landes ist nicht fundamental gefährdet. Und Sunak selbst, so geschickt er auch den Untergang seiner altehrwürdigen Partei inszeniert hat, wird als Person doch bald vergessen sein. Kein wirklicher Politiker, war er zwar spektakulär erfolglos, wird aber doch von seinem Vorgänger Boris Johnson überschattet, der mit seiner chaotischen Art und seinem ungehemmten Narzissmus Sunak in seinen zwar eigentlich gut geschnittenen, aber etwas zu knapp bemessenen Anzügen (die Hosen sind fast immer zu kurz, was nicht nur an Sunaks Neigung liegt, öffentliche Erklärungen im strömenden Regen abzugeben) eben doch in der historischen Erinnerung verdrängen wird, auch noch im Untergang.
Der Bonapartismus als Grundzug einer kometenhaften Karriere und ihres Endes: Macron
Da hat der französische Präsident Macron sehr viel bessere Chancen in Erinnerung zu bleiben. Schon in jungen Jahren ein Wunderkind, ist er ein typischer Repräsentant der französischen Staatselite, umfassend gebildet und rhetorisch brillant, aber vielleicht im geistigen Horizont noch viel weiter von der Masse der normalen Menschen entfernt als der frühere Fondsmanager Sunak, und unfähig seine Überlegenheitsgefühle jemals zu verbergen. Das Wort Understatement war der französischen Sprache ja schon immer fremd. Macrons Karriere trägt napoleonische Züge, auch wenn man bei der Wahl zwischen Napoleon I. und Napoleon III. als relevantem Vorbild schwankt.
Der Aufstieg gelang ihm nicht zuletzt kraft seines Charismas und seiner persönlichen Überlegenheit über seine Konkurrenten, und Wahlen waren für ihn immer primär Plebiszite, im Idealfall Akklamationen seines Herrschaftsanspruches durch das begeisterte Volk, ganz in bonapartistischer Tradition, an die schon de Gaulle bewusst angeknüpft hatte und die zum Teil auch die von ihm geschaffene französische Verfassung mit der starken Stellung des Präsidenten als Monarch auf Zeit prägt. Die jüngste Niederlage seiner Partei in den Europawahlen sah Macron als persönliche Demütigung und Provokation, so wie Napoleon III. 1870 die Emser Depesche Bismarcks als Demütigung betrachtete und daraufhin Preußen den Krieg erklärte.
Den französischen Wählern konnte Macron schlecht den Krieg erklären, so gern er es vielleicht getan hätte, aber seine Auflösung des Parlaments trägt dennoch Züge einer Kriegserklärung an seine Gegner links und rechts. Wie der erste Wahlgang der Parlamentswahlen gezeigt hat, wird das kaum gut enden, auch wenn Macron wohl ein Exil in einem Vorort Londons erspart bleiben wird (wo Napoleon III. starb). Fast erscheint einem Macron dabei wie eine tragische Figur, jedenfalls besitzt er deutlich mehr „Fallhöhe“ als Sunak und das ist ja eine Voraussetzung für tragisches, ja heroisches Scheitern.
Man kann nämlich kaum bestreiten, dass Frankreich in den sieben Jahren seiner Präsidentschaft dank seiner Wirtschaftsreformen wirklich deutliche Fortschritte gemacht hat. Der Trend zur Deindustrialisierung ist gestoppt, die Arbeitslosigkeit ist stark zurückgegangen und der französische Lebensstandard hat weniger als in Deutschland unter der Inflation gelitten, was freilich auch daran liegt, dass der Staat manche Preise durch Subventionen gedrückt hat, was dann wiederum die Staatsverschuldung in immer neue Höhen getrieben hat. Überdies ist es Macron gelungen, die steigenden Kosten des gigantischen französischen Sozialstaates durch Reformen ein wenig zu dämpfen, auch wenn er hier nur recht bescheidene Erfolge errungen hat, und diese zum Teil auch erst in einigen Jahren wirklich sichtbar sein werden.
Spektakulär erfolgreich war Macron dafür in Brüssel. Begünstigt durch den Brexit, der das „perfide Albion“, Frankreichs alten Gegenspieler, ausschaltete, und durch die immer deutlicher werdende Schwäche Deutschlands und seiner tumb-naiven Politiker hat er europapolitisch die Führung übernommen und ist seinem Ziel einer immer stärkeren Ausweitung der gemeinsamen EU-Verschuldung und einer gigantischen Transferunion, finanziert vor allem von Deutschland, deutlich nähergekommen. Eigentlich ist das ein großer Triumph, aber offenbar nicht das, was sich die Franzosen von ihrem Präsidenten erhofft hatten, denn der Gegensatz Metropolen-Peripherie prägt das Land weiter und die Konflikte und die Gewalt, die die ethnischen Spannungen zwischen Zugewanderten und heimischen Franzosen hervortreten lassen, haben eher zugenommen.
Dennoch bestand für Macron keine Notwendigkeit, zu diesem Zeitpunkt Neuwahlen auszurufen, hier spielten ihm seine Eitelkeit und sein Narzissmus einen Streich. Wie es nach den Wahlen weitergehen wird, weiß keiner, aber Macrons Stern ist im Sinken, wohl für immer. Immerhin, er wird nicht einfach still verglimmen, sondern wie ein gleißender Komet am Abendhimmel verlöschen. Von daher kann man ihm schon jetzt eine wahrhaft gelungene Inszenierung seines eigenen Endes bescheinigen, freilich auf Kosten Frankreichs und Europas, aber das war bei Napoleon I., einem seiner Vorbilder, wenn man an seine zahlreichen Feldzüge und nicht zuletzt das Scheitern 1812 in Russland denkt, nicht anders.
Scholz: der Kanzler, der Größe durch übermenschliche Beharrlichkeit im Niedergang zeigt
Wagt man in diesem Kontext den Namen Scholz überhaupt nur zu nennen? Ihm scheint alles zu fehlen, was Voraussetzung für ein heroisches Scheitern in der Politik ist. Uncharismatisch, ein typischer Durchschnittsmensch und ohne großes rhetorisches Talent, mit einem Allerweltsgesicht fällt es einem schwer, mit seiner Person überhaupt irgendetwas Konkretes zu verbinden. Er scheint fast in allem das absolute Gegenteil von Macron zu sein. Der Höhepunkt seiner Selbstinszenierung besteht darin, zudringlichen Journalisten, die von ihm eine Antwort auf drängende Fragen wollen, ein spöttisches „Nö“ entgegenzurufen, ein Wort, in dem manche seiner Fans freilich den tiefsinnigen politischen Denker erkennen wollen, dessen anspruchsvolle Visionen sich nur eben nicht so einfach verbal artikulieren lassen. Ja, selbst wenn man sie artikulieren könnte, wäre das gemeine Volk der Allerhöchsten Einsichten nicht würdig und könnte sie nicht gebührend schätzen.
Ein starkes Selbstbewusstsein fehlt jedenfalls auch Scholz nicht; er scheint sich tatsächlich gegenüber den meisten anderen Politikern für überlegen zu halten, so wenig das auf Anhieb nachzuvollziehen ist. Freilich fehlen ihm sowohl die natürliche Eleganz und Sprezzatura des ehemaligen Schülers einer englischen Privatschule, die Sunak besitzt, wie der Glanz des Weltenlenkers und Retters Europas, als der Macron sich präsentiert. Scholz ist vor allem eines, langweilig, was die Deutschen an ihren Politikern freilich meist zu schätzen wissen. Wenn seine Karriere scheitert, wird sie so glanz- und klanglos scheitern, wie sie bisher verlaufen ist, so könnte man meinen.
Aber damit tut man ihm wohl Unrecht, denn was Scholz tut, das ist nachhaltig. Er hat ein enormes Talent, politisches Ungemach und selbst essentielle Probleme einfach zu ignorieren und wegzudenken. Die wirtschaftliche Stagnation, die beginnende Deindustrialisierung – im Scholz-Universum gibt es diese Probleme schlechterdings nicht. Die katastrophalen Folgen einer Politik, die jede Kontrolle über Migrationsbewegungen vollständig verloren hat, katastrophal sowohl fiskalisch wie in ihrer Wirkung auf den sozialen Zusammenhalt und die öffentliche Sicherheit – all das wird weggeredet. Allenfalls werden dann einmal massenhafte Abschiebungen versprochen, von denen Scholz natürlich sehr gut weiß, dass es sie nie geben wird.
Dass die Regierungskoalition von nur noch weniger als einem Drittel der Wählerschaft unterstützt wird, mag Scholz irgendwie wahrnehmen, aber dass das auch an schlechter Politik liegen könnte, diesen Gedanken verbietet er sich. Sieht man sich andere Maßnahmen der Regierung an, den immer stärkeren Ausbau des eigentlich in der jetzigen Form nicht mehr finanzierbaren Sozialstaates, die Turbo-Einbürgerung auch eher schlecht integrierter Immigranten, die identitäre Politik zugunsten ethnischer und sexueller Minderheiten, die vor jedem Anpassungsdruck an die Mehrheitsgesellschaft geschützt werden sollen, dann hat Scholz, so könnte man meinen, vor allem einen Ehrgeiz: durch die enormen Probleme in Erinnerung zu bleiben, die seine Regierung allen Nachfolgern im Kanzleramt hinterlassen wird, Probleme, die sich vermutlich gar nicht mehr eindämmen lassen.
Hier hat er allerdings wirklich Bedeutendes geleistet, denn auch, wenn Angela Merkel wichtige Vorarbeiten vorweisen kann, irreversibel wurde der Niedergang Deutschlands wirklich erst unter Scholz, dem wir ja auch aus einer Zeit als Finanzminister den „Hamilton-Moment“ der EU, also die Aufnahme gemeinsamer Schulden verdanken, womit endgültig das Tor zur Hölle geöffnet wurde. Vor allem hat Scholz eine enorme Beharrungskraft. Auch ihm muss klar sein, dass es mit ihm und seiner Partei bergab geht, aber anders als Macron hat er sich nicht für den großen Befreiungsschlag oder den gloriosen Untergang im Kugelhagel einer verlorenen Wahl entschieden, sondern für das Ausharren in aussichtsloser Lage – kämpfend bis zum letzten SPD-Wähler gewissermaßen. Auch das hat etwas Heroisches.
So unauffällig und eigenschaftslos er erscheinen mag, seine schiere Unempfindlichkeit gegenüber allen Alarmsignalen und seine eiserne Entschlossenheit auf dem einmal eingeschlagenen Pfad weiterzumarschieren, auch wenn es offensichtlich der falsche ist, lassen ihn schon wegen seiner enormen Beharrlichkeit, von der man freilich nicht weiß, ob sie wirkliche Seelenstärke oder am Ende nur Stumpfheit und Emotionslosigkeit ist, als wahre Ausnahmegestalt in der jüngeren Geschichte Deutschlands erscheinen. Ein Sunak, eher ein Pragmatiker, könnte ihm da nie die Stirn bieten und selbst ein Macron hat in seiner historischen Wirkung nicht das Format eines Scholz, der sowohl seine Partei, die SPD als auch sein Land gänzlich unbeirrt auf einen Weg in den Niedergang geführt hat, auf dem es keine Umkehr mehr geben wird. Auch das ist eine historische Leistung, die man anerkennen muss, und die hoffentlich zukünftige Generationen gebührend würdigen werden.