In Frankreich erregte zuletzt ein Interview Aufmerksamkeit, das der französische Staatspräsident Emmanuel Macron dem Online-Medium „Brut“ gab. Unter anderem äußerte er sich auch – wie der Figaro berichtet – über die systematischen Boykotte von Personen oder Organisationen, denen vor allem in den Vereinigten Staaten sexistische, rassistische oder homophobe Aussagen vorgeworfen werden. Macron sagte: „Ich glaube nicht an das, was man als ‚Cancel Culture‘ bezeichnet“. Damit bezog er sich auf die wachsende Militanz von Gruppen, die nach dem Tod von George Floyd weltweit ihre Empörung zum Ausdruck brachten, indem sie Denkmäler historischer Persönlichkeiten vom Sockel stürzten oder mit Graffiti besprühten: so etwa Roosevelt und Lincoln in Portland, Christoph Kolumbus in Mexiko oder Winston Churchill in Westminster.
Neue Helden für die Republik
Noch im vergangenen Juni hatte Macron – wie der Figaro ins Gedächtnis zurückruft – versichert: „Die Republik wird keine einzige Spur und keinen einzigen Namen aus ihrer Geschichte löschen. Die Republik wird kein Denkmal vom Sockel stürzen“. Damals habe er das Abgleiten des „edlen“ antirassistischen Kampfes in den „Kommunitarismus“ kritisiert. Er wolle zwar für Chancengleichheit kämpfen, zeigte jedoch keine Nachsicht gegenüber jeglicher „Identitätspolitik“.
Bei seinem Gespräch mit Brut habe sich der Präsident jedoch sehr viel weniger eindeutig geäußert. Nach seiner Ablehnung einer Cancel Culture fügte er hinzu: „Demgegenüber trifft es allerdings zu, dass ein ganzer Teil unserer kollektiven Geschichte nicht abgebildet wird – ein ganzer Teil der jungen Leute, die schwarz oder maghrebinisch sind, haben ihre Helden“, doch diese habe man „einfach nicht anerkannt und ihnen keinen Platz zugewiesen“. Nun wurde ein „wissenschaftliches Komitee“ mit etwa 20 Personen eingesetzt, um Namen zu finden „die aus den Stadtvierteln oder der Immigration stammen“, um Straßen, Statuen und Bauwerke zu benennen.
Figaro: Mehrdeutige Botschaften Macrons
Hieran erkenne man, so bemerkt die französische Tageszeitung, die mehrdeutigen Botschaften Macrons, dieses „en même temps“, dieses „zugleich“, von dem die Aussagen des Präsidenten seit jeher geprägt werden: Er „will lieber aufbauen als zerstören und lieber neue Denkmäler errichten als alte abreißen. Damit hofft er, die Forderungen der extremen Linken zu umgehen, die die Auslöschung unserer Geschichte verlangt, indem er die Anerkennung eines diversitären Erbes fordert“. Neue Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund vorzuschlagen, die in die Straßenbenennungen des Landes einbezogen werden, sei „an sich keine schlechte Idee“, so der Figaro weiter, „doch wenn die Liste das Ergebnis einer Kommission ist, deren Kriterium gerade die ethnische oder rassische Herkunft ist, verfehlt sie ihr Ziel“. Mögliche Persönlichkeiten, die ein solches Kriterium erfüllten, gerade „auf diese Dimension zu reduzieren“, hieße, eher die ethnische Identität zu würdigen als der Bewunderung für eine Person Ausdruck zu verleihen: „Ist Alexandre Dumas einer unserer größten Schriftsteller oder eine Ikone der ethnischen Vermischung?“, fragt die Zeitung.
Der Figaro folgert: „Zu behaupten, der ‚Cancel Culture‘ zu entgehen, indem man dem Multikulturalismus seine Gunst erweist, läuft darauf hinaus, einen Brand mit Benzin zu löschen“. Wie Emmanuel Macron habe auch Barack Obama den Versuch unternommen, „die ‚Cancel Culture‘ zu kritisieren, als er versicherte, dass diese Art des Einsatzes zu radikal war, und dass sie schließlich nur den Trumpismus befördert“ habe. Doch, so die Zeitung weiter, wenn sich eine Lehre ziehen lasse „aus der Debatte der amerikanischen Linken – zwischen den klassischen Liberalen und der von Gender- und Rassenfragen besessenen jungen Generation –, dann lautet diese, dass die ersten stets von den zweiten verschlungen werden, unabhängig von den Zugeständnissen, die sie machen“. So etwa „musste der äußerst linke Bürgermeister von Minneapolis, der von den Demonstranten der Antifa ausgebuht wurde, weil er es abgelehnt hatte, nach dem Tod von George Floyd die Polizei komplett abzuschaffen, dies ausbaden. Sich der Identitätspolitik zu beugen, bedeutet, die Spirale endlos voranzutreiben“.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.