Tichys Einblick
Erdbeben in Paris

Macron ergibt sich dem Wahlsieger: Neuwahlen … und dann?

In Frankreich kündigt sich eine echte Zeitenwende an. Noch am Wahlabend sah sich Präsident Macron zu einem unerhörten Schritt gezwungen: der Flucht nach vorne, in den eigenen Untergang hinein. Anfang Juli schon könnte Jordan Bardella (RN) französischer Premier sein.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Hannah McKay

In Deutschland versuchen sich nach den jüngsten Wahlen wieder einige – Politiker wie journalistische Beobachter – in Wählerbeschimpfung, weil die AfD in allen östlichen Bundesländern eine Mehrheit der Stimmen bekam. Dabei spielt ein hoher Grad an Larmoyanz mit bei den ehemaligen Einweisern beim freien Wahlakt. Georg Restle vom WDR findet es legitim, auf den vermeintlich „weit verbreiteten Antisemitismus und Rassismus bei AfD-WählerInnen in Thüringen hinzuweisen“. Die Begründung der Vorwürfe bleibt vage.

Nach Niederlage in Europawahl
Eilmeldung: Macron kündigt Neuwahlen an
In Frankreich hat Emmanuel Macron nur eine Stunde nach der Prognose von 20 Uhr die Nationalversammlung aufgelöst und damit den Weg für Neuwahlen freigemacht. Er folgt damit – was für hiesige Verhältnisse paradox anmuten mag – der Forderung der größten Oppositionspartei, also des Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen und Jordan Bardella, nicht mehr ganz das Pendant der deutschen AfD, aber inhaltlich immer noch ähnlich.

Mit 32 Prozentpunkten holte das RN mehr als doppelt so viele Stimmen wie das Macron-Bündnis und gewann damit deutlich hinzu (plus acht Prozentpunkte). Die Macron-Allianz mit dem Namen Ensemble („Zusammen“) landet laut Prognose bei desaströsen 15 Prozent und hätte somit zehn Prozentpunkte verloren.

Le Pen lobt Mut und Unabhängigkeit der Bürger

Die mehr als 30 Prozent des RN sind zudem das höchste Stimmenergebnis, das irgendeine Partei in Frankreich seit 40 Jahren erreicht habe. Das hob Marine Le Pen auf der Siegesfeier der Partei hervor. Das sei „wirklich bewegend“, sagte die mehrmalige Präsidentschaftskandidatin. Und natürlich begrüßte Le Pen auch die Entscheidung Macrons zu Neuwahlen, die der Logik der Institutionen der Fünften Republik folge. Das Rassemblement sei bereit für alles, was dem folge. Das aktuelle Wahlergebnis sei zudem ein Beweis für die Hellsichtigkeit, den Mut und die Unabhängigkeit der Bürger, Eigenschaften, die laut Le Pen in besonderer Weise „französisch“ sind.

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Auch in Frankreich war diese Wahl eine Abstimmung gegen das politische Establishment vor allem der links-doktrinären Art. Fast alle länger bestehenden Parteien verloren. So schrumpften die Sozialisten (PS) auf ein gutes Drittel ihres alten Ergebnisses (jetzt 6,2 Prozent), die grünen Ökologisten (EELV) wurden mehr als halbiert auf nun 5,2 Prozent. Auch die konservativen Républicains, die sich bereits in vielen inhaltlichen Fragen nah an den RN herangeschlichen haben, verloren einen guten Prozentpunkt und erhielten noch 7,2 Prozent der Stimmen. Von der Frustration über die Regierung konnten sie nicht profitieren.

Nur das ultralinke „Aufsässige Frankreich“ (La France insoumise, LFI) konnte sich gegenüber den letzten EU-Wahlen leicht verbessern. Dennnoch bleibt es auch hier bei einem einstelligen Wert von 8,7 Prozent. Ein Linksbündnis der drei Kleinparteien, die Neuauflage des geplatzten NUPES, wird dringend gesucht. Einen Erfolg erzielte hingegen Éric Zemmours Partei Reconquête („Rückeroberung“, R!), die aus dem Stand 5,5 Prozent holte und damit die in Frankreich geltende Fünfprozenthürde überwunden hätte, wenn das Ergebnis am Ende hält.

„Das ist der erste Tag der Nach-Macron-Zeit“

Es ist praktisch das Ende von Macrons Politikerkarriere, wie auch Jordan Bardella feststellte: „Das ist der erste Tag der Nach-Macron-Zeit.“ Und das kurz vor dem krönenden Abschluss, den Olympischen Spielen in diesem Sommer in Paris und anderen Städten. Erstaunlich ist die Parallele mit Rishi Sunak, der seine Flucht nach vorn auf den 4. Juli gelegt hat. Zum französischen Nationalfeiertag könnten beide Länder neue Regierungen haben. Daneben fällt eine andere Parallele ins Auge: Gerhard Schröder 2005, der nach seinen Hartz-Reformen ein neues Mandat suchte und es allerdings deutlich knapper verfehlte, als das nun in Frankreich der Fall sein dürfte.

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Macrons ganzes Manöver lässt nur den einen Schluss zu: Der Stratege auf dem Feldherrenhügel sah sich final in die Ecke gedrängt und alle anderen Rettungswege abgeschnitten. Viele stimmen überein, dass es die einzige Lösung war. Doch zugleich wird das Unerhörte, Nie-Dagewesene von Macrons Schritt hervorgehoben. Nach einer verlorenen Parlamentswahl wird er sich nur zwischen einer Jahre währenden Kohabitation mit einem RN-Premier – wohl Jordan Bardella – und dem Rücktritt entscheiden können. Ein Rücktritt aber wäre ein absolutes Novum für einen französischen Staatspräsidenten. Es ist alles sehr merkwürdig und Ausdruck eines krisenhaften Umbruchs in der französischen Politik, der sich vor allem dem langen Ausschluss einer aufsteigenden Partei verdankt.

Und dennoch, trotz Le Pens optimistischer Worte und des realen Umbruchs, der sich in den 32 Prozent für das Rassemblement niederschlägt: Auf der Place de la République ergab sich noch am Sonntagabend eine Demonstration gegen die Auflösung des Parlaments durch den amtierenden Präsidenten. Der Protest war nicht riesengroß, rund 500 Personen waren es. Vor allem war er charakteristisch für ein gewisses urbanes Milieu, das hier gegen seine Befragung an der Wahlurne protestierte. Warum nur? Angreifbar war Macrons Entscheidung offenbar, weil er sich dabei an Bardella orientierte, der vor wenigen Wochen eben nationale Neuwahlen nach diesen EU-Wahlen gefordert hatte. Die Parlamentswahlen sollen nun am 30. Juni und 7. Juli in den gewohnten zwei Runden stattfinden. Frankreich ist nicht anders, aber weiter.

Meyer Habib: Ende der Unberührbaren – Franzosen brauchen Klarheit

Macrons Spitzenkandidatin Valérie Hayer verabschiedete sich mit einer wilden Dämonologie des Rassemblement aus ihrem vergangenen, weithin erfolglosen Wahlkampf und begann sogleich den neuen. „Die extreme Rechte“, worunter sie offenbar vor allem die Le-Pen-Partei versteht, bedrohe „Hunderte von Jahren des Fortschritts für unsere Rechte“. Wer sie wählt, wähle „die Schwäche unseres Landes“, sagte Hayer, ohne Argumente zu bringen.

Nur einer fragte, ob es denn immer noch gerechtfertigt sei, das Rassemblement noch als „unberührbare Partei“, mit der eine Zusammenarbeit nicht möglich sei: der Abgeordnete für die Auslandsfranzosen unter anderem in Israel, Meyer Habib (Les Républicains). Zum Figaro sagte Habib: „Die Franzosen brauchen Klarheit in Sicherheitsfragen, in wirtschaftlichen Fragen und in Fragen der Migration. Man kann nicht behaupten, dass 32 % der Franzosen nicht Teil des republikanischen Lagers sind. Man muss sich die richtigen Fragen stellen.“

Habib ist damit bisher der einzige Republikaner, der offen jene „Koalition der Rechten“ ins Spiel bringt, die etwa Éric Zemmour und Marion Maréchal (beide Reconquête) fast schon als ihr Steckenpferd hegen und pflegen. Maréchal sagte nun, die Koalition der Rechten sei „mehr als notwendig für Frankreich“. Mit Blick auf das EU-Parlament sagte Zemmour, die Abgeordneten seiner Partei würden dort „die französischen Wahrheiten“ sagen, die Brüssel nicht hören will.

Vergleich der französischen Wahlergebnis zwischen der EU-Wahl 2019 und den Prognosen von 2024:
Rassemblement national (RN): 23,3 % (2019) / 31,5 % (2024)
Ensemble (Ens): 24,9 % / 15,2 %
Parti socialiste (PS): 14 % / 6,2 %
La France insoumise (LFI): 6,3 % / 8,7 %
Les Républicains (LR): 8,5 % / 7,2 %
Reconquête! (R!): – / 5,5 %
Les Écologistes (EELV): 13,5 % / 5,2 %

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