Emmanuel Macron nimmt sich selbst aus dem Feuer, das ihn verbrennen könnte. Der französische Staatspräsident hat einen Waffenstillstand im Gazastreifen gefordert. Kurz zuvor hatte der amerikanische Präsident Joe Biden den Israelis kurze, tägliche Feuerpausen abgerungen. Das ist ein Aspekt bei dieser Sache: Macron wetteifert sozusagen mit Biden um den Rang des größten Friedensfürsten.
Die Entente cordiale aus Großbritannien und Grande République ist an diesem Wochenende wieder etwas lebendig geworden – wenn auch nur in Erinnerungen, Zeremonien und merkwürdigen Parallelen. Am Sonnabend begingen Briten und Franzosen den „Waffenstillstandstag“, mit dem an das Ende des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918 erinnert wird. In London fand an diesem Tag eine weitere Großdemonstration der Palästina- und Hamas-Freunde statt, die auch prompt einen Waffenstillstand in Gaza forderte. Man eignete sich diesen Friedenstag an – im Namen des Terrors, könnte man sagen. Von der Polizei wurden die Demonstranten weitgehend in Ruhe gelassen, auch wenn einige Plakate eigentlich Anlass zur Strafverfolgung boten. Aber das verschob man lieber auf später. Deeskalation war alles, solange es nicht um britische Hooligans ging. Auch in Paris gab es erneut eine größere Demonstration aus Muslimen und Sympathisanten.
Man kann Macron nun Unentschiedenheit, ja Doppelzüngigkeit vorwerfen. Vor einem Monat ließ er noch alle pro-palästinensischen Demonstrationen verbieten und mit Tränengas und Wasserwerfer gegen Zuwiderhandelnde vorgehen. Doch nun riecht die Pro-Palästina-Fraktion – darunter vor allem viele Muslime des Landes – Morgenluft. Der Präsident scheint eine Kehrtwende zu machen. Im Gespräch mit der BBC behauptet er, die Solidarität mit Israel gelte noch. Doch eigentlich ist er von dieser Linie innerlich wie äußerlich schon abgewichen.
Netanyahu: Krieg begann durch Angriff der Hamas
Ja, Israel habe ein Recht zur Selbstverteidigung gegen die Terroristen der Hamas, sagte der etwas bedrückt wirkende Macron auch jetzt. Doch nein, diesen Krieg dürfe das Land nicht weiterführen. Schwammig spricht Macron von „internationalen Regeln, Regeln des Krieges“ und dem „humanitären internationalen Recht“, woran vor allem Israel als Demokratie gebunden sei. Aus der Asymmetrie, die die Hamas herstellt, indem sich ihre „Kämpfer“ in Tunneln vergraben, während sie die Zivilisten nicht in den Süden Gazas fliehen lassen, sie also als Schutzschilde missbrauchen, werden so die gebundenen Hände Israels im Kampf gegen diesen Terrorismus.
Macrons einziges Argument bleibt am Ende, dass sich der Kampf gegen den Terror unglaubwürdig mache, wenn dabei Zivilisten sterben. Benjamin Netanyahu hatte schon am Tag zuvor auf Fox News gesagt, dass die Israeli Defense Forces (IDF) die Leben von Zivilisten so weit wie möglich schone. Am Samstag entgegnete Netanyahu noch weitergehend: „Die Verantwortung für jeglichen Schaden an der Zivilbevölkerung liegt bei der Hamas – ISIS und nicht bei Israel.“ Den nun geforderten Waffenstillstand habe es quasi vor dem 7. Oktober gegeben, ließ Netanyahu durchscheinen: „Wir müssen uns daran erinnern, dass Israel in den Krieg eintrat, weil diese Terrororganisation Hunderte von Israelis brutal ermordet und mehr als 200 Israelis als Geiseln genommen hat.“
Doch das ist eben kein gültiges Argument, weil es dann keinen Antiterrorkampf geben könnte, jedenfalls nicht in Gaza. Macron erkennt den Israelis ihr Verteidigungsrecht also zu, nur um es ihnen gleich wieder zu nehmen. Dabei haben inzwischen viele erklärt, dass es sich bei den Bewohnern des Gazastreifens eben nicht um schlechthin „Unschuldige“ handelt. Vielmehr ist die gesamte „palästinensische“ Gesellschaft durchzogen von der Wirkungsmacht des Terrors, dem Glauben an ihn. Auch im Westjordanland, auch in den Flüchtlingslagern in Jordanien und anderswo geht es nur um die eine Frage, wie man Israel die „gestohlene Heimat“ wieder entreißen kann. Und Gewalt spielt bei diesen Erwägungen meist die Hauptrolle.
Noch Ende Oktober – er war gerade in Jerusalem zu Gast – ermutigte Macron Israel dazu, „unerbittlich, aber nicht regellos“ gegen die Terroristen vorzugehen („sans merci mais pas sans règle“). Die handliche Formel verdeckte da noch seinen inneren Widerspruch. Israel solle das Kriegsrecht achten und humanitäre Zugangsmöglichkeiten zum Gazastreifen eröffnen. Schon das war eine merkwürdige Forderung an ein Land, das gerade in einen Krieg mit einem schlimmen Feind, eben der Hamas im Gazastreifen, eingetreten war. Auch im Ukraine-Krieg dauerte es, bis die humanitären Fluchtkorridore eröffnet waren. Doch aus Gaza darf niemand fliehen, UNRWA-Funktionäre haben etwaige Flüchtlinge zu „Verrätern“ erklärt.
Eine andere Frage ist, warum man die humanitären Zugänge nicht an der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen einrichten kann. Die Ägypter waren zunächst wenig auf solches vorbereitet. Das zeigt, wie schwer sich selbst mehrheitlich islamische Staaten mit der „Solidarität“ mit Gaza tun. In der Region haben die kämpfenden und Terror ausübenden Palästinenser Streubomben-Status. Niemand möchte zu viel mit ihnen zu tun haben.
Macron inszeniert sich als ehrlicher Makler – und stellt so die Republik in Frage
In dieser Situation ist es nicht erstaunlich, dass die Öffentlichkeit sich fragt, warum Macron nicht an einem Marsch gegen den Antisemitismus teilnehmen will, der für Sonntagmorgen angekündigt wurde. Am Sonnabend, am Rande der Feierlichkeiten in Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkriegs, sprach ihn eine Urenkelin von Alfred Dreyfus darauf an und zeigte sich „ein wenig enttäuscht, dass Sie nicht zu morgigen Demonstration kommen“. Macron hatte zwar eine Antwort parat, die überzeugte aber nur mäßig, wirkte unendlich hölzern.
Der Präsident zog sich ganz auf sein Amt zurück – als sei er darin in den zugigen Korridoren des Élysée-Palastes erstarrt – und erklärte, dass er noch nie an einer irgendwie gearteten Demonstration teilgenommen habe.
„Meine Rolle besteht eher darin, die Einheit des Landes zu stärken und fest zu den Werten zu stehen, … Entscheidungen zu treffen, Worte zu sagen, wenn sie gesagt werden müssen, und zu handeln. Andernfalls könnte ich jede Woche demonstrieren gehen.“ Allerdings will Macron „mit dem Herzen und mit den Gedanken bei diesem Marsch sein“, der (zufälligerweise auch) darauf abziele, „die Einheit des Landes aufzubauen“. Der Marsch sei ein „Anlass zur Hoffnung“. So spricht ein ziemlich ferner Präsident, der die Gegensätze unterhalb nur zu verwalten scheint.
Macron stellte also zwei Gruppen einander gegenüber, die dadurch quasi gleichberechtigt werden: auf der einen Seite fast das gesamte republikanische Frankreich in Solidarität mit den französischen Juden, auf der anderen Seite die Muslime des Landes und ihre linken Freunde, die sich mit den Hamas-Terroristen in Gaza solidarisierten. Macron präsentiert sich als gerechter Makler zwischen diesen beiden Gruppen – und vergisst offenbar, dass er damit die Republik schon halb verraten hat.
Die Präsidenten der beiden Parlamentskammern hatten zuvor gemeinsam zu dem Marsch gegen den Antisemitismus aufgerufen. Dennoch fand Macron, dass „viel Verwirrung“ um diesen Marsch herrsche und „viel Instrumentalisierung“. Klar war, dass die radikal-linke Partei La France insoumise (LFI) nicht an solch einem Marsch teilnehmen würde. Die Partei von Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon hat sich seit langem als migranten- und muslim- oder islamfreundliche Partei aufgestellt. Demgegenüber hat das Rassemblement national (RN) um Marine Le Pen nicht gezögert, seine Teilnahme zuzusagen, was wiederum Linken und Parteien aus der Macron-Koalition missfiel.
Aber zumindest scheint Macron die EU auf seiner Seite zu haben. Ein Widerspruch von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) wurde jedenfalls noch nicht gehört. Eher kam ihre Zustimmung darin zum Ausdruck, dass die EU insgesamt 100 Millionen Euro als „humanitäre Hilfe“ in den Gazastreifen schicken will, wie schon am Montag bekannt wurde. Gegenüber Russland hatte man sich weniger großzügig gezeigt. Doch all das zeigt vielleicht nur, wie sehr die Hamas und ihre Anhängsel heute noch von wichtigen Personen im westlichen Politiksystem unterschätzt werden.