Tichys Einblick
Vom Finanzgenie zum Defizitsünder

Macron im EU-Feuer: Defizitverfahren kurz vor der Wahl angekündigt

Kurz vor der Wahl bläst Brüssel zum Angriff auf den Schuldensünder Frankreich. Aber so schnell geht es nicht mit dem Defizitverfahren, das im Lande selbst noch kaum einen interessiert. Frankreich hat derzeit andere Sorgen. Marine Le Pen sieht Einsparpotential bei der Migration.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Dylan Martinez

Das wichtigste Nachrichtenthema an diesem Mittwoch war sicher ein anderes. Etwa die brutale Gruppenvergewaltigung eines zwölfjährigen Mädchens durch zwei etwa Gleichaltrige, weil sie Jüdin war, in Courbevoie, nordwestlich von Paris (Hauts-de-Seine). Morddrohungen und antijüdische Beleidigungen waren bei dieser Tat inbegriffen. Zuletzt wollte einer der Vergewaltiger dem Opfer noch eine Summe von 200 Euro abpressen, sonst würde ihr oder ihrer Familie Schlimmes geschehen. Eine solche Tat erregt in Frankreich besonderes Interesse, bis in die höchsten Ränge der Gesellschaft. Auch ein Emmanuel Macron erklärte eilfertig, man werde einen „Austausch“ über den Rassismus und den Antisemitismus in den Schulen organisieren. Angeblich sprach Macron „feierliche und ernste Worte über die Geißel des Antisemitismus“.

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Kurz vor den EU-Wahlen hatte er die ungeheuer vermehrten antijüdischen Taten in Frankreich noch „unerklärlich“ genannt. Nun wird klar, dass auch er weiß, woher der Antisemitismus kommt. Es ist nicht die christliche Gesellschaft Frankreichs, sondern ein Gesellschaftssegment, das man auch als „jeunistan“ bezeichnet – das Land der Jungen mit den außereuropäischen Wurzeln.

Der Erzlinke Mélenchon sprach einerseits (wolkig, vorverurteilend) von der „Konditionierung krimineller männlicher Verhaltensweisen schon in jungen Jahren“, andererseits vom „antisemitischen Rassismus“, der dahinter stecke. Marine Le Pen sieht in der Vergewaltigung das Ergebnis der monatelangen „Stigmatisierung der Juden durch die extreme Linke“. Ihr designierter Premierminister Jordan Bardella hat angekündigt, „Autorität und Ordnung auf jedem Quadratmeter des Territoriums“ wiederherzustellen.

Staatsschulden gelten nicht als Problem

So sind die Wahlkampftöne in Frankreich. Aber es gibt zudem ein wichtiges wirtschaftliches Thema. Denn am Mittwoch wurde in Brüssel der Bericht zur Lage der öffentlichen Finanzen in den 27 Mitgliedsstaaten vorgestellt. Sieben EU-Länder haben es demnach mit der Neuverschuldung übertrieben, darunter die Euro-Länder Frankreich und Italien, aber auch Belgien, Malta, die Slowakei, Ungarn und Polen, wobei die letzteren beiden nicht zum Euroraum gehören und relativ geringe Schuldenstände haben. In Frankreich wird diese Nachricht bemerkt, aber bis jetzt nur sehr maßvoll diskutiert. Kurz gesagt: Staatsschulden gelten in Paris nicht als großes Problem. Allerdings war Macron einst angetreten, um die Maastricht-Kriterien einzuhalten – was ihm allerdings nur für zwei von sieben Jahren gelang. Inzwischen regieren die Seinen meist ohne eigene Mehrheit und im Zweifel am Bürger vorbei. Die Kommunikationslosigkeit und nur vorgetäuschte Bürgernähe ist das große Problem dieser Regierung.

Auch aktuell geht es nicht bergauf mit den französischen Zahlen – obwohl in einem Sinne schon: Die Schulden steigen, das jährliche Defizit auch. Letztes Jahr betrug das Defizit 5,5 Prozent, und man verfehlte damit sogar noch den eigenen Plan, zumindest unter fünf Prozent zu bleiben. Auch in diesem Jahr erwartet sich Brüssel nichts Besseres von Paris. Die Gesamtschuldenlast Frankreichs liegt heute bei mehr als 110 Prozent des BIP.

Als Macron 2017 an die Macht kam, hatte Frankreich etwa 2,2 Billionen Euro Schulden. Sieben Jahre später sind es knapp 3,1 Billionen, ein Anstieg um 38 Prozent oder 850 Milliarden Euro. Ausgerechnet der Banken- und Wirtschaftsfachmann Macron hat das Drei-Prozent-Ziel des Maastricht-Vertrags seit 2018 nicht mehr eingehalten. Euro-Länder dürfen eigentlich nur einen Schuldenstand von 60 Prozent des BIP haben und sich eine jährliche Schuldenaufnahme von drei Prozent des BIP erlauben. Vier Jahre waren die speziellen Schuldenkriterien der Eurozone wegen Corona und Ukraine-Krieg ausgesetzt, nun gelten sie wieder.

Die Kommission hat nun ein Defizitverfahren gegen die sieben Länder angekündigt, das kommt aber keinesfalls vor dem 16. Juli und vermutlich erst viel später. Es ist also allenfalls eine in die Zukunft abgeschriebene Last für Amtsinhaber Macron und höchstens ein Prestigeverlust in der Gegenwart. Dennoch wunderte sich die politmediale Kaste kurz: Denn eigentlich müsste Brüssel Macron doch stützen, so quoll es aus den Kommentaren. Aber keine Sorge: Die Kommission wird sich auch Zeit lassen. Erst im November will sie „Vorschläge“ zu der Frage vorlegen, wie die französische Neuverschuldung (ob schnell oder langsam) gesenkt werden soll. Wirkliche Strafen wurden ohnehin noch nie einem Land wegen seiner Schulden auferlegt.

Auch das Wachstum bleibt aus

All das zeigt, dass Macron – einst als „Mozart der Finanzen“ angetreten – die öffentlichen Finanzen seines Landes eben nicht im Griff hat. Grund waren laut Finanzminister Le Maire zu geringe Steuereinnahmen. Denn die neu aufgenommenen Schulden, die in dieser Zeit auf bis zu neun Prozent des BIP anstiegen, sorgten auf der anderen Seite nicht für mehr Wachstum, wie es sich der klassische Keynesianer wünscht, auch wenn das eine ziemlich naive Vorstellung vom Wirtschaftskreislauf ist. In Frankreich steht sie gleichwohl noch in ziemlicher Blüte. Letztes Jahr gab es nur 0,87 Prozent Wirtschaftswachstum, dieses Jahr soll auch dieser Wert noch unterboten werden. Damit lag Frankreich allerdings noch über dem EU-Mittel von 0,4 Prozent.

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Es war trotzdem nicht genug. Als das zu erwartende Wachstum im März nach unten korrigiert wurde, flüsterte Macron seinem Regierungs-Ökonomen ins Ohr: „Du bist doch schon sieben Jahre hier, Bruno!“ Dasselbe gilt (mutatis mutandis) allerdings auch für den Präsidenten selbst. Ende Juni kam die logische Folge des Wachstumseinbruchs: Kurz vor den EU-Wahlen stufte die Ratingagentur S&P Frankreich von AA auf AA- herab, was mittelfristig zu höheren Zinszahlungen führen wird. Das schwache Wachstum hemmt nun auch die Aussichten auf mehr Steuereinnahmen und ein Sinken der Staatsverschuldung.

Marine Le Pen, der die zusätzlichen Ausgaben einer künftigen RN-Regierung schon jetzt gerne vorgeworfen werden, meinte schon im März: „Diese Leute müssen zugeben, dass sie niemandem auf dem Planeten mehr eine Lektion erteilen können, weder in Haushalts- noch in Wirtschaftsseriosität.“

Bardella will kein „Mitarbeiter des Präsidenten“ werden

Konkret will das Rassemblement national (RN), falls es eine Regierung unter Jordan Bardella bilden kann, die Mehrwertsteuer auf Energie und Grundnahrungsmittel radikal von 20 auf 5,5 Prozent senken und Macrons Rentenreform zurückdrehen, auch wenn dies nicht die erste Priorität sein wird. Kaufkraft, innere Sicherheit und Immigration werden vorgehen. Auch die Finanzierbarkeit wird eine Rolle spielen, ebenso vielleicht Absprachen mit den Republikanern, die sogar ein höheres Rentenalter als 64 bevorzugen.

Die von ihm angekündigte Regierung der nationalen Einheit will Bardella aber eigentlich nur dann bilden, wenn seine Partei eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erringt. Auch Marine Le Pens Worte deuten nicht auf eine Koalitionsregierung, etwa mit den konservativen Républicains (LR), hin. Jedenfalls hätten die beiden Parteien noch kein „miteinander verhandeltes Programm“. Der LR-Chef Ciotti stehe einer Fraktion in der Nationalversammlung vor: „Und falls es wirklich notwendig sein sollte, über eine Gesetzesvorlage zu diskutieren, so wird man diese hinzuziehen, um sicherzustellen, dass der Entwurf bei der Abstimmung über eine Mehrheit verfügt.“

In jedem Fall wird sich ein Premierminister Bardella nicht als „Mitarbeiter des Präsidenten“ sehen. Vielleicht wird er aber auf parteilose Experten zurückgreifen. Marine Le Pen zeigt sich im Interview mit dem Figaro (übernommen von der Welt) erfreut, dass eine große Zahl „hoher Beamten und Diplomaten“ sich bereit gezeigt habe, in einer solchen Regierung mitzuarbeiten.

Der Elefant im Finanz-Raum: Immigration

In ihrem Interview verwies Le Pen daneben auf einen „Elefanten im Raum“, den niemand sehen wolle: „Und der heißt Einwanderung.“ Und die laste sehr wohl schwer auf den öffentlichen Ausgaben. Mehrwertsteuerbetrug (geschätzte 15 Milliarden Euro) und Sozialbetrug (10 bis 20 Milliarden Euro) stehen als zu eliminierende Einnahmeverluste im RN-Programm – die Partei versteht das auch als Senkung der Kosten der Immigration.

Hardliner
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„Wenn man pro Jahr 500.000 Menschen legal ins Land lässt, braucht man 4000 zusätzliche Krankenhausbetten.“ Allerdings würden zur gleichen Zeit und paradoxerweise Krankenhausbetten gestrichen – das System breche folglich unter der Last zusammen. (Nicht anders ist es ja in Deutschland, wo Arzttermine mehr denn je rationiert werden.) Auch die Kinder der Einwanderer müssten unterrichtet werden, so Le Pen weiter. Man brauche mehr Polizeibeamte, „weil das Land immer unsicherer wird“. In Frankreich (und Deutschland) gehören alle diese Felder unzweifelhaft zum Aufgabenbereich des Staates, werden also aus den Steuern aller Bürger bezahlt. Es gibt also Einsparpotential.

Dem RN wird ja gerne nachgesagt, es wolle die öffentlichen Ausgaben weiter aufblähen oder mit Steuersenkungen für einen weiteren Anstieg des Defizits sorgen. Aber tatsächlich ist beides nicht dasselbe. Gegen den Kaufkraftverlust will das RN Gehaltserhöhungen in gewissem Maß von der Abgabenpflicht befreien. Es gibt noch ein paar solcher Versprechen, die auf mehr Geld beim Bürger hinauslaufen und den Staat dadurch (auf kurze Sicht) Geld kosten beziehungsweise ihn einschränken. Daneben will man auch gegen die Steuervermeidung globaler Konzerne vorgehen, und Landwirte sollen gegen „unfaire Konkurrenz“ geschützt werden. Wie genau, bleibt noch unklar.

Nach der Wahl will Le Pen zudem das Territorialprinzip im Staatsangehörigkeitsrecht abschaffen, das Kindergeld für straffällig gewordene Kinder streichen, Strafen anpassen und Strafmilderungen abschaffen. Das nicht von Beiträgen getragene Sozialsystem insgesamt soll überprüft werden. Frankreich hat derzeit noch anderes in Ordnung zu bringen als nur seine Finanzen – und vielleicht hat es auch einfach andere Sorgen als die Finanzen.

Ciotti und Klarsfeld würden Bardella wählen

Der Vorsitzende der Republikaner, Éric Ciotti, hat erklärt, dass er in der zweiten Runde der kommenden Parlamentswahlen den Kandidaten des Rassemblement wählen würde, wenn diesem ein Kandidat der linken „Volksfront“ gegenüberstünde. Außerdem fordert er abtrünnige Republikaner dazu auf, zurückzukehren in seine Reihen. Die Partei ist derzeit so gespalten wie das Papsttum um 1400 zwischen Avignon und Rom, und man darf sehr gespannt sein, wie gut Ciotti die Partei nach dem Wahlgang im Griff haben wird.

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Doch nicht nur der Konservative Ciotti würde die „Rechtspopulisten“ um Marine Le Pen im zweiten und entscheidenden Wahlgang wählen. Dasselbe gilt auch für Serge Klarsfeld, „ohne Zögern“ sogar. Serge Klarsfeld spricht Klartext: „Ich würde Rassemblement national wählen, weil ich mein Leben lang dafür gekämpft habe, die jüdische Erinnerungskultur, verfolgte Juden und den Staat Israel zu verteidigen und weil ich einer extremen Linken gegenüberstehe, die von La France insoumise beherrscht wird, die nach Antisemitismus stinkt und deutlich antizionistisch ist.“

Dagegen habe sich der RN „gemausert“ und unterstütze die Juden, sagte der bekannte „Nazi-Jäger“. Sein Sohn Arno – Anwalt und einst Kandidat für die UMP, Vorgängerpartei von LR – stimmt ihm zu. Das Stimmangebot gilt mindestens da, wo das RN gegen die extrem linke, migrationsfreundliche Partei La France insoumise („Aufsässiges Frankreich“, LFI) antritt. Die, so Vater Klarsfeld, sei eine „entschieden antijüdische“ Partei. LFI trägt ein gutes Drittel der Stimmen zum Linksbündnis „Neue Volksfront“ bei.

Hollandes Kandidatur verrät die Panik der Kaste

In der Corrèze hat indessen der sozialistische Staatspräsident a.D. François Hollande seine Kandidatur für einen Sitz im Parlament angekündigt. Das gilt als äußerst unüblich für einen ehmaligen Präsidenten, wie auch Hollande selbst zugab: „Eine außergewöhnliche Entscheidung in einer außergewöhnlichen Lage.“ Seit 1945 sei die „extreme Rechte noch nie so nah an der Macht gewesen“. Aber auch Hollande lässt sich so auf den Zusammenschluss von Sozialisten, Grünen und Linksextremen ein. Daneben setzt sich auch Macron hier mit ins Boot: In Hollandes Wahlkreis will die Macronie keinen eigenen Kandidaten aufstellen, während sie daneben das „immigrationistische Programm“ der linken Volksfront kritisiert. Der neue Mini-Pakt Macron/Hollande verrät die Panik der Politikerkaste und der ENA-Eliten vor einem Machtverlust.

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