Es war eine Debatte, die lange in Details erstickte, welche wohl kaum ein Fernsehzuschauer goutiert haben wird. Ein Dialog, der in der ihm aufgezwungenen Dramaturgie der Themenfelder zu ersticken schien. So setzten sich Emmanuel Macron und Marine Le Pen zunächst lang und breit, sich in technischen Details ergehend, über Steuersätze und Kaufkraftmangel auseinander. Macron freute sich, dass im Le-Pen-Programm keine Rede von Arbeitslosigkeit war. Le Pen forderte mal um mal ein in der Zeit haltbares System für die Franzosen und wollte damit vermutlich die Finanzierbarkeit ihrer Vorschläge unter Beweis stellen.
Daneben versuchten beide Kandidaten früh ihre eigenen Themen ins Spiel zu bringen – Le Pen die notwendige Assimilation an die französische Kultur, Macron die Ausrichtung an der Ökologie –, doch die durchgetaktete Dramaturgie machte beiden Kandidaten einen Strich durch die Rechnung. Diesmal ging Marine Le Pen auf Nummer sicher. Die Kandidatin versuchte sachkundig und akzeptabel zu wirken, lachte immer mal wieder über Macrons Vorwürfe. Das Angriffige fehlte darüber fast ganz, während sich Macron raumgreifend als der Tonangebende zu präsentieren suchte.
Fast einig in der Russland-Frage
Einig waren sich beide, dass man Russland zurück auf den Weg der Vernunft locken müsse und warfen sich doch gegenseitig das Nachsuchen um russische Kredite (Macron über Le Pen) oder Putins Besuche in Versailles und anderswo (Le Pen über Macron) vor. Le Pen verurteilte den Angriff auf die Ukraine mit eindeutigen Worten. Auf die Krimfrage, in der sie hinter Russland stand, wollte sie eigentlich zurückkommen, was dann aber ausblieb. Le Pen ist – ähnlich wie ihr politischer Nachbar Zemmour – vor allem gegen ein ausuferndes Sanktionsregime gegen das Land, aus dem sie Öl und Gas heraushalten will.
An dieser Stelle flocht Le Pen ein: Man müsse verhindern, dass Russland sich langfristig mit China verbündet und die beiden Mächte am Ende eine wirtschaftliche und militärische Supermacht bildeten. Man lebe in einer komplexen Welt, beschied Le Pen alle Zweifler, müsse langfristig denken und Gefahren vermeiden. Und was den russischen Kredit angeht, bekräftige Le Pen in einem der wenigen blutvollen Momenten des Abends, dass sie eine „absolut freie Frau“ sei und schon vor Jahren die Unabhängigkeit der Ukraine verteidigt habe.
Le Pen für ein globales Frankreich ohne Windkraft
Macron bekannte sich zum deutsch-französischen Motor (oder couple, „Paar“, wie man in Frankreich sagt), bei dem man sich fragen kann, worin derzeit seine Projekte bestehen sollen. Le Pen wies darauf hin, dass andere EU-Länder nicht begeistert von diesem Führungspaar seien. Doch vor allem stellte sie zu Recht fest: Es gibt keine europäische Souveränität, denn es gibt kein europäisches Volk. Ähnlich wie die Linke sieht Le Pen in der EU teils nur einen Finger der Globalisierung in deren aus ihrer Sicht bekämpfenswerten Version, die den lokal verankerten Mittelstand schwächt. Dabei ist Frankreich für Le Pen auch eine globale, nicht nur eine europäische Macht. Doch diese positive Wertung bezieht sich auf ihren Plan, sich nicht nur auf die EU-Bande zu verlassen, sondern sich alternative Beziehungen zur Welt aufzubauen, ähnlich wie es Brexit-Britannien inzwischen tut.
Was der Debatte hier immer noch fehlte, waren die fliegenden Fetzen oder auch nur Argumente, an denen man erkennen hätte können, wie der jeweilige Kandidat das Land regieren würde. Persönliche Bekenntnisse blieben die Ausnahme. Natürlich ist Le Pen für ein Europa der Nationen, auch wenn Macron ihr unterstellt, weiterhin aus dem Staatenbund fortzustreben. Dann wieder so eine Prüfungssituation: Was hätte Le Pen in der Covid-Krise anders gemacht? Sie hätte, so die Antwort sinngemäß, vielleicht keine Krise daraus gemacht, sondern nach dem ersten Lockdown auf weitere Ladenschließungen vor allem kleiner Geschäfte verzichtet.
Die Windkraftanlagen will Le Pen zurückbauen, weil sie laut und hässlich seien. Das Atomkraftwerk Fessenheim hätte sie nicht abgeschaltet, obwohl Macron einwendet, es sei eines der ältesten. Die Diskussion um erneuerbare Energien ist in Frankreich eine Nummer kleiner, eben weil die Atomkraft noch weiterläuft. Dennoch steht Macron als Progressist für deren Ausbau, Le Pen bleibt – als Konservative – eher skeptisch, was die Möglichkeit angeht, den Klimawandel mit Menschenmacht umzubiegen.
Erst nach zwei Stunden kamen die zentralen Themen
Es dauert mehr als zwei Stunden, bis man auf die Themen kommt, die den Wahlkampf nicht nur insgeheim bewegt haben und zu mehr als 30 Prozent für Kandidaten rechts der Républicains (Le Pen, Zemmour, Dupont-Aignan) geführt haben. Es ist Le Pens großer Moment, als sie die zunehmende innere Unsicherheit im Lande beschreibt, härtere, aber auch intelligentere Strafen fordert, zum Beispiel lieber 9 oder 14 Tage Haft, die aber auch vollzogen werden, anstatt ein halbes Jahr auf Bewährung, das keinen Missetäter beeindrucken wird. Die Niederlande hätten damit gute Erfahrungen gemacht.
Macron kann sich erzieherische Maßnahmen vorstellen, die auch Drill in einem militärischen Umfeld umfassen. Auch hier spielt sich der französische Wahlkampf scheinbar auf einem anderen Planeten ab, einfach weil die französische Realität der unsrigen um einige Jahre voraus ist. In den Schulen mahnt Le Pen Disziplin und Strenge gegen Störer an, die ganze Klassen tyrannisierten.
Hierauf gelingt Macron kein klarer Gegenangriff, er muss auf den Argumentenbaukasten zurückgreifen. Le Pen vermische Islam und Islamismus, dabei hatte sie genau das vermieden – anders als Zemmour, der den Islam als das tatsächliche Problem ansieht. Zuvor hatte Macron zum ersten Mal lange zugehört, als Le Pen die gestiegene Kriminalität beschrieb. Das ist, Le Pen sagte es, eine Realität, die man nicht mehr verleugnen kann, die inzwischen in Stadt wie Land an die Kandidaten herangetragen wird, wenn sie denn hinhören wollen. Le Pen redet sich ein wenig in Rage über ein Einwanderungsreferendum, das sie ab Herbst vorbereiten will, und die Abschaffung des Jus soli, aber es ist spät geworden.
Macron spricht von der Schengen-Reform, die er angestoßen hat, bei der aber noch nicht klar ist, wie sie illegale Migration verhindern will – außer wenn es einfach darum gehen sollte, Ungarn und Polen den Rücken zu stärken. Die Kooperation mit Herkunftsländern will er stärken, das gebe es positive Beispiele. Welche, erfährt man nicht. Hier hätte Le Pen einmal eine Frage stellen können. Ob Macron ihr geantwortet hätte? Daneben lobte sich der amtierende Präsident für die konsequentere Verfolgung von Gefährdern. Aber wer die Kriminal- und Terrorberichterstattung aus dem Land kennt, wird damit nicht zufrieden sein.
Kann Macron sich trotz lauer Beliebtheitswerte durchsetzen?
Dann ging es noch etwas um direkte Demokratie und ob sie mit der Vision des Staatsgründers Charles de Gaulle überein zu bringen sei. Für Le Pen ist das Volk der unbestrittene Souverän, wie auch die Verfassung feststellt. Für Macron steht deren Buchstabe über allem. Ein bezeichnendes Eingeständnis einer erstaunlichen Buchstabengläubigkeit bei dem jungen „Liberalen“.
In ihrem Schlusswort sagte Le Pen, die Franzosen wollten Ruhe, eine ausbalancierte Globalisierung und mehr menschliches Maß im Sozialsystem. Da war wieder ein gewisser Mangel an rhetorischem Glanz zu spüren, den die Kandidatin gerne mit der Aneinanderreihung möglichst vieler Ausdrücke auszugleichen sucht.
Es war keine Debatte mit einem eindeutigen Sieger. Ersten Umfragen zufolge konnte Macron 59 Prozent der Zuschauer überzeugen, Le Pen 39 Prozent. Weitere Umfragen hatten ergeben, dass die Franzosen beide Kandidaten in vielen Fragen ähnlich sehen. So glaubt etwa ein Drittel, dass der jeweilige Kandidat das Land zusammenführen könne (Macron: 36 %; Le Pen: 31 %). In der gleichen Liga liegen auch die Ehrlichkeitswerte der Kandidaten (Macron: 36 %; Le Pen: 34 %). Macron gilt allerdings den meisten als dynamischer als Le Pen (49 zu 31 Prozent). Dagegen wird Le Pen größeres Verständnis für die Sorgen der Franzosen zugesprochen.
Macron mag das Staatsschiff derzeit fest in seinen Händen halten. Der Vorwurf Le Pens, dass er sich zuletzt mit der Spaltung und Geringschätzung der Franzosen hervortat, ist aber nicht von der Hand zu weisen. Das Land zerfällt heute in drei etwa gleich große politische Blöcke, die das Patt hervorrufen, von dem Macron am Ende profitieren dürfte.