Auch nach der Verlagerung der Migranten vom Grenzübergang Brusgi–Kużnica in einer Logistikhalle nicht weit davon beenden die Weißrussen nicht ihr taktisches Spiel. Am 19. November teilte der Vorsitzende des weißrussischen Staatsgrenzenkomitees, General Anatolij Lappo, der polnischen Seite mit, dass es am Grenzübergang Brusgi–Kużnica »keine Personen mehr gibt, die eine Bedrohung für die polnischen Dienste darstellen«. Deshalb könnten die Polen den derzeit geschlossenen Grenzübergang wieder öffnen. Doch das ist kein Schritt, zu dem die Polen derzeit willens wären. Der Befehlshaber des polnischen Grenzschutzes, Tomasz Praga, erklärte, dass die Angriffe von Migranten auf polnische Grenzbeamte und Soldaten »bei vollständiger Passivität der weißrussischen Seite« inakzeptabel seien.
Daneben hat sich das Geschehen schlicht in andere Bereiche verlagert. So wurden erneut mehrere Durchbruchsversuche von größeren Migrantengruppen – zwischen einigen dutzend und 200 Personen – im Bereich des Außenpostens Dubicze Cerkiewne, etwas weiter südlich, abgewendet. Die Migranten seien aggressiv gewesen, hätten Steine und Feuerwerkskörper geworfen und Tränengas benutzt.
Und noch immer hegt die polnische Regierung keine Zweifel daran, dass die weißrussischen Kräfte die Angriffe der Migranten orchestrieren. Der Sprecher des Minister-Koordinators für Sonderdienste, Stanislaw Żaryn, hat in den letzten Tagen akribisch nachgewiesen, dass die Migranten bei ihren Angriffen Kartuschen benutzen, die Weißrussland einst in der Tschechischen Republik gekauft hatte. Daneben präsentierten die polnischen Grenzschützer in den letzten Tagen umfangreiches Videomaterial, das zeigen sollte, dass weißrussische Soldaten, uniformierte wie solche in Zivil, die Migranten bei ihrem Sturm auf die polnischen Grenzanlagen tatkräftig unterstützten.
»Wir sind Slawen. Wir haben ein Herz. Vielleicht haben wir ihnen geholfen.«
Nun zeigt sich: Diese Mühe hätten sich die Polen sparen können. Befragt vom Moskauer BBC-Korrespondenten Steve Rosenberg, antwortete Lukaschenko ohne Umschweife: »Unsere Männer helfen Migranten, auf polnisches Gebiet zu kommen? Das ist durchaus möglich.« Schließlich gehöre das zum Charakter der Weißrussen: »Wir sind Slawen. Wir haben ein Herz. Unsere Truppen wissen, dass die Migranten nach Deutschland wollen. Vielleicht hat ihnen jemand geholfen. Ich werde keine Nachforschungen dazu anstellen.« Seinen Status als Outlaw in der westlichen Welt spielt Lukaschenko so voll aus. Er kann fast alles tun und sagen, ohne dass es ihm zum Nachteil gereicht, im Gegenteil. Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt? Das sind doch Kleinigkeiten, die ich meinen Soldaten nicht vorwerfen werde, scheint der Präsident zu sagen.
Daneben beharrt Lukaschenko darauf, dass die Migrationsströme Richtung EU nicht von einem Politikwechsel in Minsk ausgelöst wurden. Er erzählt, dass er der EU gesagt habe, er werde Migranten nicht mehr an der Einreise in sein Land hindern. Das werde er auch in Zukunft nicht tun. Denn nicht sein Land sei das Ziel der Migranten, sondern »Ihres«, also Westeuropa, zum Beispiel Großbritannien. Er beharrt aber darauf, die Migranten nicht eingeladen zu haben. »Und ehrlich gesagt, will ich nicht, dass sie über Weißrussland reisen.« An dieser Behauptung gibt es Zweifel, denn inzwischen ist die Verstrickung der staatlich geführten Reiseagentur Centrkurort in die illegale Migration ans Licht gekommen. Angeblich verkauft Centrkurort regelrechte »Reisepakete« mit weißrussischem Visum, Hotel, Grenzübertritt und Weitertransport nach Deutschland. Mit 2.500 bis 4.500 Euro soll jedes dieser Pakete zu Buche schlagen.
Insgesamt ist es ein interessantes Interview, in dem Lukaschenko die abenteuerlichsten Dinge zugibt, als ob es ihm darum ginge, seinen Ruf als unumschränkter Herrscher Weißrusslands zu stärken. So fragte Rosenberg den Präsidenten nach Gefangenen, die in weißrussischen Internierungslagern geschlagen worden sein sollen. Nun gibt es Photos davon. Aber der Korrespondent wollte seinen Ohren fast nicht trauen, als Lukaschenko ihn mit den Worten unterbrach: »Ok, ok, ich gebe es zu, ich gebe es zu.« Dazu erhob er mahnend die Hand. In Offenherzigkeit wollte er sich nicht schlagen lassen. Seine Version des Vorfalls: »Im Internierungslager Okrestina wurden Menschen geschlagen. Aber es wurden auch Polizisten verprügelt, und das haben Sie nicht gezeigt.«
Auch auf andere Fragen, die der BBC-Reporter wie schmerzhafte Dolchstöße plazierte, gab Lukaschenko offenherzig Auskunft. So erwähnt Rosenberg die 270 Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die das weißrussische Regime seit dem Juli aufgelöst habe. Und darauf folgte nun eine wahre Breitseite des Präsidenten. Ohne Probleme werde er diese Frage beantworten: »Wir werden den ganzen Abschaum, den ihr [der Westen] finanziert habt, massakrieren. Ihr seid aufgebracht, dass wir alle eure Strukturen zerstören. Eure NGOs und all die, die ihr die ganze Zeit bezahlt habt.« Lukaschenko muss hier sicher kein Blatt vor den Mund nehmen. Er hat in seinem Land alle Freiheiten. Und auch wenn einem der Herrscher von Minsk in diesem Interview beinahe sympathisch vorkam, hat er sein Spiel mit Migranten an der polnischen Grenze noch nicht beendet.
Polen stellen sich auf dauerhafte Bedrohung ein
Der Ministeriumssprecher Stanislaw Żaryn hielt am Sonnabend in einem Gespräch mit der polnischen Nachrichtenagentur PAP die Erwartung fest, Weißrussland werde auch weiterhin versuchen, die polnischen Grenzen zu destabilisieren. Polen sei in dieser Hinsicht zum »Hauptziel« der weißrussischen Aktivitäten geworden. Die weißrussische Seite benutze die Migration systematisch als Waffe, um politische Ziele zu erreichen. Und durch die Einquartierung der Migranten in einer Lagerhalle bei Brusgi sei zwar für alle ihre Bedürfnisse gesorgt – von Lebensmitteln bis zu Zigaretten und einer Wechselstube. Aber die grenznahe Unterbringung birgt aus Żaryns Sicht auch Gefahren. Die Polen sehen die Lagerhalle als ›Basis‹ der Migranten für neue Angriffe auf die Grenze.
Der Sprecher des Premiers, Piotr Müller, stellte nun fest: Auch wenn die direkten Angriffe auf den polnisch-weißrussischen Grenzübergang fürs erste beendet wurden, sei die »geopolitische Krise aus dem Osten« noch keineswegs beendet. Sie werde sich vielmehr über Monate und Jahre fortsetzen. Polen, die EU und die NATO müssten künftig vorbereitet sein auf »Bedrohungen aus dem Osten«. Nachdem Lukaschenko seine Bereitschaft gezeigt hat, jede sich bietende Schwäche auszunutzen, stellen sich die Polen – und das ist klug – auf eine dauerhafte Bedrohungslage ein.
Der polnische Premier Mateusz Morawiecki plant eine Reihe von Besuchen bei den europäischen Partnern. Am heutigen Sonntag will er in die drei baltischen Länder reisen, um deren Regierungschefs zu treffen. Die Balten teilen mit den Polen die Bedrohungslage aus dem Osten. Weitere Reisen sollen in andere EU- und Nicht-EU-Länder führen. Laut Regierungssprecher Müller brauche man alle Arten von Solidaritätsaktionen – ebenso von den EU-Mitgliedern wie von anderen europäischen Ländern. Beziehungsreich erwähnt Müller hier auch die Fertigstellung der Nord-Stream-2-Pipeline, die ein »neues Instrument zur Energie-Erpressung« in den Händen Russlands sei. Er verweist auf die vorangegangenen Aktionen Russlands in Georgien, auf der Krim und in der östlichen Ukraine. All diese Daten erschwerten die Einschätzung der geopolitischen Lage, so Müller. Außerdem beobachte man derzeit Cyber-Angriffe, die auch die Manipulation der Gaspreise umfassten.
Derweil sind Innenminister Mariusz Kamiński und Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak am Freitag nach Washington gereist, um sich mit dem nationalen Geheimdienstdirektor zu besprechen. Natürlich im Zentrum der Gespräche: die Rolle der Vereinigten Staaten im östlichen Mitteleuropa.
Soldaten dienen, damit die Polen ruhig schlafen können
Seine Landsleute schwor Verteidigungsminister Błaszczak derweil auf größtmögliche Solidarität mit den Soldaten ein. Der Grenzschutz sei derzeit eine besonders schwere Aufgabe, doch die Armee sei auf solches vorbereitet und habe mehr als einmal gezeigt, dass sie »auch schwierigsten Herausforderungen gewachsen« sei. Die Priorität für ihn in seinem Amt sei es, den Soldaten menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu bieten. Die Möglichkeit zur Erholung gehöre ebenso dazu wie ein anständiges Gehalt und finanzielle Vorteile. Für all das habe er gesorgt.
Das Wichtigste für die Soldaten sei jedoch, die Unterstützung der Polen zu spüren: »Ich ermutige Sie dringend, unsere Soldaten an der Grenze zu unterstützen. Denn, wie sie mir erzählten, als ich sie an der Grenze besuchte: alle Gesten des Respekts, der Freundlichkeit und der Erinnerung machen sie sehr glücklich und stärken ihre Motivation. Sie brauchen das sehr. Schließlich dienen sie dort, damit wir ruhig schlafen können. Erinnern wir uns daran.« Auch das Innenministerium versichert die Landsleute: »Bei Tag und bei Nacht wird die Grenze bewacht. Gute Nacht, Polen!« Zur gleichen Zeit fahren polnische Anti-Terror-Einheiten am Grenzzaun Streife.