Tichys Einblick
Trumpf des britischen Gesundheitsministers

Lockdown Files: Wie man Weihnachten durch das „Projekt Angst“ ersetzte

Als Weihnachten 2020 wegen einer angehenden Tory-Rebellion und kritischen Stimmen in der Presse zum Familienfest zu werden drohte, zog Matt Hancock einen Trumpf aus dem Ärmel: Die Kent- oder Alpha-Variante sollte das Aufbrechen der sozialen Kontrolle verhindern, die man um jeden Preis beibehalten wollte.

MAGO / Parsons Media - Collage: TE

In Deutschland sprach Karl Lauterbach in rhythmischen Konvulsionen von der „absoluten Killervariante“, die – wahlweise auch als Chimäre als Omikron und Delta – schon hinter der nächsten Kalenderwoche hervorlugte. Damit und durch die regelmäßige Ankündigung neuer Wellen hielt er sein Publikum erst ohne, dann auch mit Amt bei Laune und auf Linie.

Im Gegensatz zum spökenkiekerischen Karl Lauterbach hat der britische Gesundheitsminister zumindest noch mit einem Restmaß an taktischem Geschick gehandelt. Das bedeutete, dass er den Bogen rhetorisch nicht so absurd überspannen konnte – was wiederum direkt damit zusammenhängen dürfte, dass Großbritannien sich weitaus früher von den „Maßnahmen“ verabschiedete als Deutschland. Hinter den Kulissen war allerdings auch Matt Hancock eine Mischung aus Alarmist und PR-Fachmann in eigener Sache.

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Tat er alles nur, um Leben zu schützen? Das behauptet Matt Hancock nun in einem Statement, mit dem er auf die Vorwürfe, die sich aus der Veröffentlichung seiner WhatsApp-Nachrichten aus der Lockdown-Zeit ergeben.

Hancock selbst hatte die Nachrichtenverläufe mit der Talk-TV-Journalisten Isabel Oakeshott geteilt, die als Co-Autorin seines Lockdown-Buchs agierte, in dem ebenfalls ein mutiger Gesundheitsminister gepriesen werden sollte. Doch die Details aus diesen Nachrichtenverläufen ließen Oakeshott offenbar nicht ruhen. Sie brach das Vertraulichkeitsversprechen, das sie Hancock gegeben hatte, und stellte das Material dem Telegraph zur Verfügung, der es nun groß in einer Flut von Artikeln herausbringt.

Die Entscheidungen der Regierung und des Gesundheitsministers im Speziellen waren in vielen Fällen nicht von der Wissenschaft geleitet, sondern vielmehr von Kommunikationsberatern geprägt. Aus den „Lockdown Files“ geht auch hervor, dass Hancock die Epidemie der Krankmeldungen und Selbstisolationen aufgrund positiver Coronatests – die vor allem zu Ende der „Pandemie“ auffielen, als das Virus eindeutig endemisch wurde – eben deshalb nicht beendete, um keinen Gesichtsverlust zu erleiden. Die Isolierung bei positivem Test musste beibehalten werden, weil jede andere Entscheidung bedeutet hätte, dass „wir uns geirrt haben“.

Die Kent-Variante als Auftragsarbeit der Forschung für die Politik?

Gravierender als dieses Rückzugsgefecht dürfte das Vorgehen Hancocks kurz vor Weihnachten 2020 gewesen sein, als es – im Originalton – noch darum ging, die Briten heftig mit einer neuen Variante zu erschrecken und sie so quasi behavioristisch auf Regierungslinie zu bringen. Der Vorfall kurz notiert: Am 13. Dezember informierte einer von Hancocks Medienberatern, Damon Poole, den Gesundheitsminister, dass scharfe Coronaregeln zum Weihnachtsfest schwierig werden könnten, ein Teil der Tory-Abgeordneten rebelliere schon und sei „wütend schon angesichts der Aussicht“ auf schärfere Regeln. Auch das einflussreiche Boulevard-Blatt Mail on Sunday habe die Regierung „gewarnt“.

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Doch Poole wusste etwas, was sie nicht wussten: Man könne Schwung in die Sache bringen – „mit der neuen Variante“, worauf Hancock erwartungsgemäß begeistert antwortete: „Wir erschrecken sie kräftig mit der neuen Variante.“ Und kurz darauf: „Wann setzen wir die neue Variante ein?“

Es ging um die Alpha-Variante, die ursprünglich nach der britischen Grafschaft Kent benannt worden war. Unbekannt ist, was Hancock hier mit „Einsetzen“ gemeint haben könnte. Ging es wirklich um ein PR-Manöver, das das Erstellen und Aussetzen einer neuen gefährlichen Virus-Variante einschloss? Eher stellte man sich wohl die Frage, wie man die Variante als möglichst gefährlich darstellt. Im November und Dezember 2020 waren die Infektionsraten in Kent angeblich nicht im selben Maße gefallen wie erwartet. Das ließ natürlich die Bevölkerungskontrolleure in Westminster aufhorchen. Man interessierte sich, zugleich fanden Wissenschaftler die neue Variante.

Allerdings sind die Forschungsarbeiten, die man dazu heute nachlesen kann, nicht älter als der 19. Dezember 2020. Und das war auch der Tag, als das britische Weihnachtsfest 2020 quasi abgesagt wurde, offenbar aufgrund bahnbrechender Erkenntnisse der Politik. War das eine Verschwörung von Politik und Forschern gewesen, wobei die letztgenannten hier eine Art Auftragsarbeit ablieferten? Das wäre eine weitere Sensation hinter dem Scoop der „Lockdown Files“ aus dem Telegraph.

Wissenschaftliche Erkenntnisse gezielt zur Propaganda eingesetzt

Mit dem Wortwechsel zwischen Hancock und seinem PR-Berater Poole ist allerdings klar, dass man solche wissenschaftlichen Erkenntnisse gezielt einsetzte, um nicht nur die öffentliche Meinung und die Presse zu beeinflussen, sondern auch um Mehrheiten im Parlament zu sichern. Und es war nicht zum ersten Mal geschehen. Wie der Telegraph ebenfalls zeigen kann, ging das spätestens im Juni 2020 los, als sich Hancock und der wissenschaftliche Berater Patrick Vallance darüber freuten, dass eine „in eine positive Richtung weisende“ Studie viel weniger beachtet würde als ihr „düsterer“ Gegenpart. Hancock versetzte: „Wenn wir wollen, dass sich die Menschen benehmen, ist das vielleicht keine schlechte Sache.“ Vallance: „Sicher, sie saugen die miserable Interpretation auf und liefern mehr, als sie müssen.“ Tatsächlich war der R-Wert für das Land auf miserable 0,57 gesunken, fernab jeder drohenden Fallexplosion. Die mediale Diskussion warf sich folglich auf die verbleibenden Hotspots, wo man nun von lokalen Lockdowns sprach, um auf diesem Weg Panik zu verbreiten.

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Vier Monate später versuchte man sein Glück dann andersherum: Die sogenannte „Watchlist“ zu den Hotspots kam den Leuten offenbar aus den Ohren wieder heraus, so dass man nun darüber diskutierte, nicht mehr über sie zu berichten, damit wieder das gesamte Land sich unsicher fühlen würde. PR-Berater Poole schrieb an Hancock: „Es hilft dem Narrativ, wenn wir [die Watchlist] nicht veröffentlichen.“ Hancock stimmte zu, die Liste erst mal nicht zu veröffentlichen. Angst war dabei kein Geheimnis in dieser Pandemie. Noch im Januar ging es darum, die Briten zu „mehr Regelbefolgung“ (compliance) zu bringen. Maskentragen unter freiem Himmel und an mehr Arbeitsstätten wurde erwogen, auch wie man mit Anglern umgehen sollte. Doch das war Minister Hancock teils zu „klein“. Das einzige „große Ding“, das er bewegen konnte, seien Kindergärten und Arbeitsstätten. Kabinettssekretär Simon Case stimmte zu: „Wir brauchen mehr Messaging – der Angst/Schuld-Faktor ist entscheidend.“

Wenn all das – die Virusvariante, das Verschweigen positiver Studien, die ganze PR-Strategie – nur der Aufbauschung einer tatsächlich viel geringeren Gefahr gedient hat, dann muss man tatsächlich von Wähler- und Abgeordnetenbetrug sprechen. Tatsächlich gab es in der konservativen Fraktion schon 2020 eine lebhafte Debatte um die Lockdowns. Premierminister Boris Johnson selbst hatte versucht, mit dem Verweis auf alternative, doch nicht weniger wissenschaftliche Studien den zweiten im November verhängten Lockdown zu verhindern.

Nun sagte der konservative Abgeordnete Jacob Rees-Mogg im Nachrichtensender GB News, befragt nach den „katastrophalen“ Folgen der Lockdowns für die Wirtschaft: „Ich stimme Ihnen zu. Das dürfen wir nicht noch einmal machen.“ Er selbst sei von Anfang an gegen die Notstandsgesetzgebung als Instrument gewesen und hätte regelmäßige Parlamentsdebatten zu den einzelnen Entscheidungen vorgezogen. Noch nicht einmal alle Regierungsmitglieder, so Rees-Mogg, der unter Johnson und Truss Minister war, seien umfassend informiert und in die Entscheidungen eingebunden worden.

Dass „Projekt Angst“ gab es auch in Deutschland

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Es war das „Projekt Angst“, wie es nun wieder in der britischen Presse genannt wird und das auch in Deutschland nicht unbekannt war. So hieß es beispielsweise am 1. März 2020 in einer einst einflussreichen deutschen Zeitung: „Bundesinnenminister Horst Seehofer (70, CSU) schließt im Kampf gegen das Coronavirus auch die Absperrung von Regionen oder Städten nicht aus: ‚Dieses Szenario wäre das letzte Mittel.‘“ Also eine schlecht verhohlene Drohung mit dem Modell Wuhan – samt Panikschreien und Töpfeklappern aus den Wohnsilos – als Mittel zur Einschüchterung und Disziplinierung der Bürger.

Ende März 2020 erfuhr auch die Öffentlichkeit, was hinter solchen und ähnlichen Aussagen des deutschen Innenministers steckte. Da war ein vertrauliches Strategiepapier aus seinem Haus an die Öffentlichkeit gedrungen, in dem unter anderem die Sätze zu lesen waren: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden.“ Andernorts hieß es in demselben Papier wie in konkreter Bebilderung dazu: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause.“

Daneben ist auch die erstaunliche Zahl von 1,2 Millionen Toten zu lesen, die im „worst case“ des Innenministeriums auf uns hätte zukommen sollen – wenn das Virus in ungemildeter Wucht auf die Gesamtbevölkerung getroffen wäre, errechnet aus einer Sterblichkeit von bis zu 2 Prozent. All das lag, wie man heute weiß, schon immer fernab der tatsächlichen Realität.

Corona-PR als Jonglierspiel mit Varianten und Impfstoffen

Mit seiner angstgetriebenen Kampagne für mehr Lockdown wies Gesundheitsminister Hancock in genau die entgegengesetzte Richtung von weniger Verantwortung für das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes, ohne dass eine relevante Gefährdung der Briten oder des Gesundheitssystems durch die neuen oder alten Varianten eine Rolle in den Gesprächen des Politikers spielte. Es ging schlicht um das Jonglieren mit Politikansätzen, bei denen jeder Politiker in der Art eines mittelalterlichen Turnierritters eine „würdige Sache“ auf seinen Schild hebt, für die er dann ins öffentliche Turnier zieht. Dass das Jonglieren gar nicht immer einfach war, verriet auch Medienberater Damon Poole im nächsten Satz des eben zitierten Dialogs: Man solle die Sache zunächst unter Verschluss halten. „Bei der Variante besteht die große Gefahr, dass rechte Zeitungen einen erneuten Vorstoß in Richtung ‚lasst es krachen‘ unternehmen, weil so die Impfstoffstrategie untergraben wird.“

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Man konnte also die neue Alpha-Variante auf dem Markt der Meinungen platzieren, riskierte damit aber, dass die Nützlichkeit des eben erst entwickelten Impfstoffs in Frage gestellt würde. Eine vollkommen richtige Schlussfolgerung des in diesen Dingen kundigen Beraters. Nur gehört wurde nicht auf sie. Denn diese Pandemie war bekanntlich die Pandemie des Sowohl-als-auch: Mit Masken und Impfungen, mit Aufrufen zum Abstandhalten und gesteigerter Furcht vor der nächsten „Killervariante“ sollten Menschen unter Druck gesetzt werden, sich dem Gesamtpaket zu ergeben – auch wenn es am Ende nicht mehr viel Sinn ergab. Aber das war da schon egal geworden, weil die „Masse“ der Argumente auch bei mangelnder innerer Stimmigkeit überzeugt oder besser überredet hatten. Wer war schon vollkommen? Und ein Politiker gar, der konnte ja nicht von allen wissenschaftlich-medizinischen Widersprüchen unterrichtet sein und sie in sein Handeln integrieren …

Übrigens war Hancock – das hat man hierzulande vielleicht schon vergessen –, weiß Gott, nicht vollkommen. Vielmehr war er derjenige Minister, der auch während des Lockdowns eine Geliebte hatte und bei Treffen mit ihr die Lockdown-Regeln brach. Mehrmals brachte er sie zu privaten Essen mit seinem US-Amtskollegen mit. Er selbst hatte keine Angst, auch nicht vor der öffentlichen Bloßstellung.

Auch in Deutschland verfing die Angstpropaganda

Noch ein Blick auf Deutschland: Hier gab es zwar keine pfälzische Virusvariante, mit der ein Jens Spahn oder ein Karl Lauterbach den Deutschen ihr Weihnachten versauern wollte. Das war auch so möglich, dank der geballten internationalen Propaganda für soziale Distanz. Aber jenes Bild der „qualvoll um Luft ringenden“ Kranken, das aus dem Seehofer-Papier an die Öffentlichkeit drang, hat sich in der Tat tief in die kollektive Psyche vieler Menschen eingegraben. Man hörte es immer mal wieder, meist um zur Vorsicht zu raten.

Die Angstpropaganda hatte also gewirkt und gehorsame Covid-Untertanen erzeugt, die teils noch einen Monat vor dem Fall der Maskenpflicht in Bus und Bahn gegen fehlende Gesichtsverhüllungen anmeckerten. Inzwischen hat sich das Bild in der Bahn wieder erstaunlich schnell normalisiert – einzelne Ausnahmen natürlich eingeschlossen, über die hier keineswegs gerichtet werden soll. Es sei nur festgehalten: Meist sind es jüngere Menschen, die noch beflissen Maske tragen. Viele Ältere mochten sich nicht daran gewöhnen und vergaßen die Masken bald wieder. Ihnen machen offenbar andere Dinge mehr Angst als ein Atemwegsvirus.

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