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Liz Truss: Neue britische Premierministerin will Steuersenkungen und staatliche Investitionen

Das Wirtschaftsprogramm von Liz Truss klingt für deutsche Ohren ungewohnt: Lieber investieren als sparen, um die Inflation zu bekämpfen? An Entschiedenheit fehlt es der neuen Premierministerin nicht. Kompromisse wird sie sicher eingehen müssen, sei’s mit der eigenen Partei, der Opposition oder mit der Krise selbst.

Liz Truss, neue Premierministerin des Vereinigten Königreichs, 05.09.2022

IMAGO / ZUMA Wire

Mary Elizabeth Truss wird neue britische Premierministerin. Das Ergebnis der Abstimmung über den Vorsitz der konservativen Partei fiel erwartungsgemäß aus, auch wenn viele einen höheren Sieg von Truss erwartet hatten. Am Ende gewann sie 81.326 gültige Stimmen, gegenüber gut 60.399 für Rishi Sunak.

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Und wie das immer so ist: Deutschen Kommentatoren sind die Verfahren auf der Insel nicht demokratisch genug. Bemängelt wird, dass Truss nun zwar eine Mehrheit in der konservativen Partei gewonnen hat (auch sie mit 57,4 Prozent knapper als vorausgesagt), aber in der Fraktion und im Volk keine Mehrheiten vorweisen könne. Aber natürlich ist es auch auf dem „Kontinent“ nicht viel anders. Oder haben die Bundesbürger jemals direkt über den SPD-Granden Olaf Scholz abgestimmt? Und wer weiß schon etwas über die echten Mehrheiten im Parlament …

Das System der britischen Konservativen hat dagegen eine gewisse Ehrwürdigkeit für sich, die sich auch darin zeigt, dass das Endergebnis vom Vorsitzenden des Hinterbänkler-Vereins „1922 Committee“, Graham Brady, verkündet wurde. Das dreistufige Verfahren bietet die Möglichkeit für Checks-and-Balances. Wahr ist, dass Boris Johnson und Theresa May auch in der Unterhausfraktion spontan Mehrheiten hinter sich versammelten, also als Favoriten in die jeweiligen Urwahlen gingen.

Steuersenkungen gegen die Krise

Für Truss selbst war der innerparteiliche Wahlkampf „eines der längsten Bewerbungsgespräche der Geschichte“. Man könnte das als Zeichen ihres frühen Siegesbewusstseins ansehen. Nun endet diese relativ sorgenfreie Zeit. Schon während der letzten Woche bereitete sich Truss auf ihre Regierungsübernahme vor. Sie ist als Aktenfresserin bekannt und muss, so glauben manche, darauf achten, dass sie als Regierungschefin nicht in der Faktenflut versinkt.

Nun geht man davon aus, dass Truss schon bald die Pflöcke ihrer Amtszeit als Premierministerin einschlagen muss, um überhaupt in den folgenden Monaten erfolgreich sein zu können. Das bedingen nicht nur die äußeren Krisen um Gasmangel und Inflation, auch die fragile Machtbalance in der konservativen Partei könnte von Truss Zugeständnisse fordern – oder ihre Amtszeit könnte bald schon Geschichte sein.

Unterstützt wurde Truss von der Parteirechten, also von den Brexiteers um Jacob Rees-Mogg und Suella Braverman. Die „Koalition“ mit der Brexit-Rechten hat Liz Truss den Sieg über Sunak eingebracht, der in der Partei vermutlich zu sehr als ein Geschöpf Londons und des reichen Südostens angesehen wurde, dessen Wohlstand den aller anderen Landesregionen überflügelt. Längst hat hier eine Entfremdung vieler Briten von „ihrem“ Bruttoinlandsprodukt eingesetzt: In ärmeren Gegenden wird es nicht mehr als das eigene wahrgenommen. Doch auch Truss, die im nordenglischen Leeds und in Schottland aufgewachsen ist, muss erst noch beweisen, dass sie Interessenpolitik für das „tiefe Land“ Großbritannien machen kann.

Am Donnerstag werden Truss’ Vorschläge zum Umgang mit der Energie- und Inflationskrise erwartet. Bei einer Inflation im zweistelligen Bereich (derzeit 10,1 Prozent bei steigender Tendenz) ist schnelles Handeln gefragt. Bereits angekündigt sind die Rücknahme der jüngsten Steuererhöhungen für Betriebe (Körperschaftssteuer zurück von 25 auf 19 Prozent), die Rücknahme der Erhöhung der Versicherungsbeiträge (außer einigen Milliarden für Pflege und öffentliche Fürsorge) und eine zeitweilige Senkung der Öko-Abgaben auf Energieträger.

Suella Braverman für die Kanalkrise, Kemi Badenoch für den Kulturkampf?

Davor stattet Johnson am Dienstag der Königin einen letzten Besuch auf Schloss Balmoral ab, um offiziell von seinem Staatsamt zurückzutreten. Ebendort wird dann Truss in ihr neues Amt eingeführt. Es folgt eine Rede in Westminster und die Neubesetzung der Kabinettsbank. Die meisten Posten sind hier schon vergeben und die Namen auch öffentlich bekannt. Die vordere Reihe des Kabinetts wird nun – fürs erste – von Truss-Getreuen und Verbündeten besetzt.

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Die bisherige Regierungsjustitiarin Braverman wird vermutlich zur Innenministerin befördert, wo man sich etwas mehr Fortune bei der Verhinderung von Kanalüberfahrten illegaler Einwanderer und bei Abschiebungen von ihr erhofft, als Priti Patel es zuletzt mit ihren rauhbeinigen Methoden hatte. Kwasi Kwarteng, gebürtiger Londoner und Sohn wohlhabender ghanaischer Einwanderer, wird Schatzkanzler. Fast scheint es so, als gebe es bei diesem Amt inzwischen einen Bonus für Kandidaten mit außereuropäischem Migrationshintergrund. Der neue Kanzler ist ebenso wie seine drei Vorgänger seit 2019 kein Ethno-Brite.

Auch für die Mitbewerberin Kemi Badenoch soll ein Platz frei sein, dagegen keiner für Michael Gove, mit dem Truss öfter im Clinch lag. Aber Badenoch ist als Goves ministeriale Ziehtochter ein guter, öffentlichkeitswirksamerer Ersatz. Badenoch ist die derzeit profilierteste Stimme der Konservativen gegen Wokeness und Pseudo-„Antirassismus“. Am Mittwoch wird Truss dann ihre ersten Prime Minister’s Questions absolvieren, wo man einen Eindruck von ihrem Stil an der Spitze des Landes bekommen wird.

Die „Trussonomics“ stellen kontinentale Gewissheiten auf den Kopf

Viel Spannung umgibt die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Akzente, die Truss setzen will. Es ist ihr Leib- und Magenthema, mehr noch als die Brexit- und Außenpolitik, für die sie bisher teilweise zuständig war. Dabei sind die „Trussonomics“ noch durchaus geheimnisumwittert und könnten tatsächlich eine ganz eigene, vielleicht typisch britische Wendung nehmen, wie etwa Kate Andrews im Spectator erklärt.

Demnach will Truss mit ihrem Team eine neue Balance zwischen Staat und Bank of England erreichen. Angesichts der anschwellenden Inflation will Truss „Entlastungspakete“ vermeiden. Ein Einschwenken auf die Labour-Linie wird ihr aber dann doch zugetraut: Als Provisorium für den Winter könnte es einen Preisdeckel für Energiekosten geben. Die Differenz zwischen Marktpreis und Deckel müsste natürlich der Staat zahlen. Das Einfrieren der Energiekosten für ein Jahr würde angeblich 60 Milliarden Pfund kosten – also etwa so viel wie Rishi Sunaks Kurzarbeit-Programm während des Lockdowns. Es scheint egal zu sein, wer in diesen Zeiten regiert. Am Ende gewinnen die Staatsschulden.

Dabei ist Truss in Finanzfragen eigentlich eine überzeugte Konservative und Liberale. In einer der jüngsten Diskussionsrunden hatte Truss den Preisdeckel noch als „kostspieliges Pflaster“ abgelehnt, das nicht das Problem an der Wurzel lösen würde. In einem neuen BBC-Interview sagte sie die denkwürdigen Worte: „Ich halte es für falsch, alles durch die Brille der Umverteilung zu betrachten. Worum es mir geht, ist Wirtschaftswachstum, und das kommt allen zugute.“ Nur mit Sätzen wie diesen, ist in heutigen medialen Zeiten überhaupt konservative Finanzpolitik möglich.

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Daneben will Truss durch vermehrte Investitionen die Zentralbänker dazu bringen, die Zinsen zu erhöhen, und so letztlich zu einer strikteren Geldpolitik kommen – also weniger Inflation. Ob dieser mittelfristige Plan aufgeht oder sich als Planungsmonster entpuppt, wird zu sehen sein. Die Trussonomics drehen jedenfalls die kontinentale und vor allem deutsche Sicht in diesem Punkt komplett um: Die aktuelle Inflation rührt demnach von der Ausgabenzurückhaltung der Staaten. Hörten sie damit auf, Steuereinnahmen und Staatsausgaben bedächtig miteinander abzugleichen und sich Ausgabenzurückhaltung aufzuerlegen, dann stiegen die Zinsen auf quasi natürliche Weise, woraus wiederum Signale für Ausgabenzurückhaltung und eine festere Geldpolitik erwachsen.

Der Staat ist hier kein allmächtiger, aber doch ein wichtiger Akteur auf einem gemeinsamen Markt und kann so auch diesen Markt positiv beeinflussen. Schon während der Euro-Krise hatte es ähnliche Wortmeldungen von der Insel gegeben. Und tatsächlich hört es sich nicht unsinnig an, wenn auch Konservative zu bedenken geben, dass der „Konsens, dass man nie irgendetwas ausgeben darf“, falsch ist. Letztlich führt dieses Dogma zu der verfallenden Infrastruktur, die wir auch in Deutschland beklagen.

Abwartende Haltung gegenüber dem „très bon buddy“ Macron

Truss will an teuren Levelling-up-Projekten festhalten und bleibt insofern auch nahe bei Johnsons Brexit-Programm. Zusammen mit den versprochenen Steuersenkungen von 50 Milliarden Pfund würde so jedenfalls die Ausgabenzurückhaltung früherer Tory-Regierungen gründlich aufgegeben.

Steht Truss also sicher auf dem konservativen Posten? Ihre Eltern waren links orientiert und nahmen die Tochter mit auf Demonstrationen gegen Thatcher. Später wurde sie zur Liberaldemokratin und Republikanerin. Ihre Vornamen Mary und Elizabeth sind die Namen der beiden ersten regierenden Königinnen in der Geschichte Englands, der katholischen Maria I. und ihrer protestantischen Halbschwester Elisabeth, beides Töchter Heinrichs VIII. Vielleicht kündigt sich schon darin eine gewisse innere Gespaltenheit an.

Auch für den Brexit war Truss nicht immer. Doch heute ist sie der Meinung, dass das Nordirland-Protokoll revidiert werden muss, um die Einheit des Königreichs sicherzustellen. Jüngst konnte sie sich nicht entscheiden, ob Emmanuel Macron „Freund oder Feind“ ist. Johnson sprang in die Bresche und nannte Macron in schönstem Anglo-Französisch einen „très bon buddy“. Seit dem Ende der napoleonischen Ära seien die franko-britischen Beziehungen „sehr gut“ gewesen und das solle man feiern. Dieser für Johnson typische Optimismus wird in der kommenden Zeit wohl fehlen. Dagegen dürfte die hartnäckige Truss die britischen Streitigkeiten mit der EU mit Entschlossenheit ausfechten, jedenfalls wenn ihr innenpolitisch die Kraft dazu gegeben ist und wird.

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