Europa schaut neuerlich aufs Mittelmeer wegen der in voller Fahrt befindlichen Migrationskrise. Seit dem Amtsantritt der neuen italienischen Regierung hat der Ton neue Schärfe gewonnen, der besonders vonseiten der Medien und NGOs angefacht wird – denn die konservativen Parteien machen Ernst mit ihren Ankündigungen aus dem Wahlkampf, die Migrationsströme zu blocken und die libyschen Verhältnisse wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Das sollte hellhörig machen – denn können „moralische“ Attacken wirklich zwei Staaten so entzweien? Und was für eine Motivation hat ein Land wie Frankreich, das von „hässlichen Gesten“ spricht, um Italiens Mittelmeerpolitik anzuprangern, aber selbst den Grenzübergang bei Ventimiglia schließt?
Frankreich: ein ehemaliges Imperium wie Russland und die Türkei, das seinen Anspruch nicht aufgibt
Tatsächlich geht es Frankreich nicht um die aktuelle Migrationskrise. Der Konflikt zwischen den Nachbarländern hat tiefergehende Gründe – die nun, da Italien wieder über eine starke, souveräne Regierung verfügt, erneut aufbrechen. Libyen und das Mittelmeer spielen dabei eine zentrale Rolle – die Migration deutlich weniger. Es geht um Einflusssphären, neokoloniale Einflusszonen, Öl, Währungshoheit – und imperialen Stolz.
Aus aktuellem Anlass hat der italienische Publizist Lorenzo Vita ein Buch (Imperi (in)finiti) über vier ehemalige Imperien (Russland, Türkei, Großbritannien, Frankreich) geschrieben, die im Grunde ihren imperialen Status verloren haben, aber ihren imperialen Anspruch nicht aufgeben wollen. Russland und die Türkei springen dabei wegen der aktuellen Ereignisse ins Auge; und Londons durchaus nicht unerfolgreiche Ambitionen, über das Commonwealth seinen weltweiten Status zu erhalten, sind bekannt.
Frankreich dagegen fällt insbesondere in Deutschland unter den Tisch. Dabei ist gerade die aktuelle Mittelmeerkrise ein anschauliches Beispiel dafür, wie die sich immer noch als Weltmacht wähnende Mittelmacht versucht, über dem eigenen Gewicht zu boxen.
Für die Italiener war etwa die Einrichtung eines französischen Protektorats in Tunesien (1881) Grund genug, ein Jahr später dem bisherigen Zweibund aus dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn beizutreten und den Dreibund zu begründen – obwohl Sardinien-Piemont bzw. Italien zuvor drei Kriege gegen die habsburgische Monarchie geführt hatte. Auch der Kriegseintritt Mussolinis 1940 war vor allem dadurch motiviert, dass das faschistische Italien Frankreich als seinen natürlichen Rivalen empfand und der erfolgreiche deutsche Feldzug darauf hindeutete, dass man den gallischen Hahn nun endgültig rupfen konnte.
Bis 2011 spielte Italien eine geschickte Libyen-Politik, welche die Migration unterband und Vorteile für eigene Firmen brachte
Die Zeiten direkt ausgeübter Kolonialherrschaft mögen zwar sowohl im einst französischen Maghreb wie im einst italienischen Libyen vorbei sein. Der Konflikt hat aber auch im 20. und 21. Jahrhundert nichts an Aktualität verloren. Vor dem Sturz von Muammar al-Gaddafi hatte Italien einen privilegierten Zugang zu seiner Ex-Kolonie, trotz aller Verstimmungen. Die letzte Regierung von Silvio Berlusconi wusste wie schon andere italienische Vorgängerregierungen um die Vorteile. Neben dem Zugriff auf Ressourcen konnte das Migrationsproblem an das nordafrikanische Land ausgelagert werden. Und ähnlich wie Frankreich seine nordwestafrikanische Einflusssphäre behielt, konnte Rom in Tripolis die Politik in eine günstige Richtung lenken.
Berlusconi verfolgte in den 2000ern eine geschickte Libyen-Politik. Einerseits bat er die Libyer der italienischen Kolonialherrschaft wegen um Verzeihung; nach diesem moralischen Eingeständnis zahlte Italien 5 Milliarden Euro als Wiedergutmachung. Doch solche Transaktionen hatten nicht allein moralische Hintergründe. Das Geld ging größtenteils in Infrastrukturprojekte, an denen italienische Firmen beteiligt waren. Libyen öffnete sich in den letzten Jahren des Regimes für Privatinvestoren, Italien profitierte also vom angeblichen Kotau.
Berlusconi hielt deswegen bis zuletzt an Gaddafi fest. Dann kam jedoch jener verheerende „Arabische Frühling“, den die Europäer zum Beginn von Demokratie und Freiheit in einer autoritär regierten Weltregion verklärten.
Anfang 2011 fordert Nicolas Sarkozy: Gaddafi muss gehen
An der Spitze derjenigen, die dabei nach Aufständen in Libyen ein Ende des Gaddafi-Regimes forderten, stand Frankreich. Prominent dabei: der linke Journalist Bernard-Henri Lévy (Libération). Nach einer Reise in Libyen organisierte er die Unterstützung libyscher Rebellen durch die französische Regierung. „Weg mit Gaddafi!“ war eine Losung, die auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy als erstes westliches Oberhaupt aussprach. Der gallische Hahn krähte zum Angriff und kleidete sich ähnlich wie Napoleon beim baldigen Feldzug in das Gewand der Menschenrechte und Befreiung unterdrückter Völker.
Als der internationale Druck auf Libyen immer größer wurde, Überlegungen zu einer Nato-Operation an Konturen gewannen und eine UN-Resolution bevorstand, folgte Italien einer seit der mittelalterlichen Kommunenzeit bewährten politischen Strategie: Bevor man auf der Seite der Verlierer stand, wechselte man schnell ins Lager der voraussichtlichen Gewinner. Für Berlusconi war es der Biss in den sauren Apfel; doch bevor Italien nun auch noch gegen die europäischen Verbündeten stand, ließ man Gaddafi fallen. Damit verlor der libysche Diktator seine eigentliche Schutzmacht.
Italien musste sich in den Folgejahren mit einer Migrationspolitik beschäftigen, die es im Grunde immer zu vermeiden versucht hatte, und letztlich auch gegenüber Presse und linker Politik sowie Weltöffentlichkeit den Eindruck erwecken, nicht als herzloser Schurkenstaat dazustehen. Die Regierung Berlusconi wurde zudem im Herbst 2011 von der EU abgesägt: der Beginn eines Interregnums, angeführt von Mario Monti. Ihm folgten mit Enrico Letta, Matteo Renzi, Paolo Gentiloni, Giuseppe Conte und Mario Draghi allesamt Ministerpräsidenten, die niemals zur Wahl angetreten waren.
Frankreichs Doppelspiel in Libyen: die demokratische Regierung vorne hofieren, den Warlord Haftar hinten unterstützen
In diesem Zeitraum interner wie externer Schwäche expandierte Frankreich im libyschen Chaos. Ähnlich wie Italien einen privilegierten Draht zu Gaddafi aufgebaut hatte, unterhält Frankreich heute einen privilegierten Draht zu Chalifa Haftar. Haftar konkurriert als Warlord mit der eigentlich vom Westen anerkannten Regierung in Tripolis. Ursprünglich ein Gefolgsmann von Gaddafi, war Haftar bereits in den 1980ern von den USA als CIA-Mann und Anführer einer Anti-Gaddafi-Armee verwendet und mit der US-Staatsbürgerschaft bedacht worden. Er kehrte zu Beginn des Bürgerkriegs nach Libyen zurück. Ab 2015 begann die Kooperation zwischen Haftar und Paris, weil Haftar aus der Sicht der Franzosen als einziger die Islamisten in Schach halten konnte, die damals versuchten, im Nordosten des Landes Fuß zu fassen. Ähnlich sah Paris Haftar als nützliche Figur an, um der türkischen Einmischung in der Region entgegenzutreten.
Doch Haftar hat Legitimationsschwierigkeiten, und offiziell erkennt auch Frankreich nur die Regierung in Tripolis an. Zudem ist der russische Einfluss in den vergangenen Jahren deutlich stärker geworden. Mittlerweile erhält er Unterstützung von der russischen Söldnertruppe „Gruppe Wagner“. 2017 posierte Macron symbolträchtig zwischen Haftar und dem damaligen libyschen Ministerpräsidenten Fayiz as-Sarradsch beim Handschlag. Aus der Pariser Vermittlung wurde nichts. Das Land ist weiterhin gespalten – nach einer Intervention, die Paris gewollt und angestiftet hat. Frankreichs Libyen-Politik kann demnach als komplett gescheitert gelten
Demnach hatte Paris ganz andere Gründe, in Libyen einzugreifen. Gaddafis Regierung verfüge nach vorliegenden Informationen – so schreibt Clintons Berater Sidney Blumenthal in einer Mail vom 2. April 2011 – über 143 Tonnen Gold und eine ähnliche Menge Silber. Dieser Hort sei angelegt worden, um eine „panafrikanische Währung“ zu stabilisieren, die auf dem libyschen Dinar fußen sollte. Dieser Plan sollte eine Alternative zum französischen CFA-Franc sein.
Über die Reaktion in Paris schreibt Blumenthal: „Französische Geheimdienstoffiziere entdeckten diesen Plan kurz nach Beginn der anhaltenden Rebellion und er war einer der Faktoren, die die Entscheidung von Präsident Nicolas Sarkozy beeinflussten, Frankreich zum Angriff auf Libyen zu verpflichten.“ Weitere Ziele der französischen Regierung in Libyen: Anteile an der libyschen Ölförderung; Erhöhung des französischen Einflusses in Nordafrika; Verbesserung der Position des französischen Militärs; Festigung der Position Frankreichs in Nordwestafrika als führende Macht.
Für Frankreich geht es um Öl, Verträge und die Hegemonie in Nordafrika
In Deutschland mögen diese Details nur einem kleineren Kreis bekannt sein, weil Libyen-Politik hierzulande keine Rolle spielt, und auch die E-Mails von Clinton heute höchstens als Argument unverbesserlicher Trump-Anhänger gelten. Südlich der Alpen sieht das etwas anders aus. Es gab nämlich eine Person, die diese Sachverhalte öffentlich thematisiert hat: „Ich finde es beschämend, dass niemand jemals daran gedacht hat, in dieses öffentliche Dokument einzusteigen und zu den wahren Ursachen zurückzukehren, die das Chaos in Libyen entfesselt und das Einwanderungschaos erzeugt haben, das über uns kommt.“
Der Chefredakteur des liberal-konservativen Libero, Alessandro Sallusti, hat daher in einer Talksendung mit Paris abgerechnet. Die ganze moralische Empörung Frankreichs über die Migration im Mittelmeer sei gespielt. Es gehe vor allem darum, Italien zu desavouieren und die tieferliegenden Interessen zu verbergen. Frankreich habe „enorme Interessen“ in Libyen. „Paris hat einen privilegierten Kanal zu Haftar und pflegt seit der Ermordung Gaddafis seit einiger Zeit Interessen auf libyschem Boden. Und gerade aus Libyen kommen die Migranten, die an unseren Küsten landen.“
Meloni hat als Augenzeugin der Geschehnisse von 2011 eine Rechnung mit Frankreich offen
Bei der Migrationsmoral im Mittelmeer handele es sich daher um eine „Waffe der Massenablenkung“. Die Linke in Italien wende sie gerne an, um sie politisch gegen die Regierung zu benutzen, und sie daran zu hindern, was sie eigentlich tun müsste. Frankreich wiederum verwendet sie bewusst, um das Geschehen nicht mehr politisch zu kommentieren – logischerweise müsste dann nämlich nicht über Bootsflüchtlinge, sondern eine konstruktive Lösung für die libysche Staatlichkeit gefunden werden –, sondern sie durch Hypokrisie zu verwässern. Auf Deutschland übertragen möchte man hinzufügen: Auch hierzulande sieht man Massenmigration als Schicksal, das man delegieren muss, statt an pragmatische Lösungen oder Hilfe vor Ort zu denken.
Der harsche Ton, mit dem Frankreich Italien derzeit angeht, hat daher tiefere Gründe. Denn Meloni hat bereits im Wahlkampf deutlich gemacht, was sie will: ein stabiles, friedliches, und wohl auch geeintes Libyen. In einem solchen Libyen hätte ein Haftar wohl keinen Platz mehr – und damit auch Frankreich nicht. Die Migrationsfrage im Mittelmeer ist daher auch eine Frage, die nicht nur in Rom und Tripolis, sondern auch in Paris beantwortet werden muss. Dass Frankreich lieber den Grenzzugang in Ventimiglia schließt, und die Samariter-Rolle an Deutschland delegiert, zeigt, dass das alte Imperium immer noch denkt, sich alles erlauben zu können.