Noch immer ist nicht restlos geklärt, was wirklich am 27. Juni geschehen ist. Nun hat ein dritter Polizist, der die Verkehrskontrolle über Funk mit anhörte, ausgesagt. Danach hätte Nahel in der Tat den Versuch gemacht, durch schnelles Beschleunigen zu entwischen, nachdem er von den Polizisten angehalten worden war. Das passt zur Erzählung eines seiner Freunde im Auto, der davon sprach, Nahels Fuß sei unwillkürlich auf dem Gaspedal gelandet. Sind die Pedale bei dem verwendeten Mercedes AMG wirklich so empfindlich? Zweifellos ist der Wagen aber zu einer raschen Beschleunigung fähig, er war den Polizisten als „hochtourig“ aufgefallen. Der Mercedes war am Vortag in Nanterre gemietet worden. Angeblich haben auch zwei Freunde von Nahel ihn benutzt. Man weiß, dass solche Vermietungen auch in Deutschland häufig in Clan-Hand sind und als Geldwaschmaschinen dienen.
Florian M. bleibt auch weiterhin in Untersuchungshaft, in der er sich seit dem 29. Juni befindet. Er trifft derzeit keinen Menschen, kommuniziert aber durch Videocall und viele Textnachrichten. Sein Anwalt fordert seine Freilassung unter Auflagen, da der 38-jährige Polizist im Gefängnis weniger sicher sei als im öffentlichen Raum. Außerdem habe er das Gesetz sein ganzes Leben lang geachtet und werde es nicht am nächsten Tag verletzen.
Sollte sich nun die Aussage des dritten Polizisten als korrekt erweisen, dann müssten die Ermittlungen gegen den beschuldigten Florian M. eingestellt werden, weil sein Verhalten vorschriftsmäßig war. Das gibt sogar der Anwalt der Familie Nahels zu. Laut ihm widerspricht das Video der Behauptung des dritten Polizisten am Funkapparat.
Jean Messiha, Initiator der Spendenaktion für die Familie des beschuldigten Polizisten (inzwischen wurden mehr als 1,6 Millionen Euro gespendet), erklärte den Erfolg seines Aufrufs in einer Gesprächsrunde so: „Auf der einen Seite gibt es ein Frankreich, das randaliert, attackiert und in Brand gesetzt hat, auf der anderen ein Frankreich, dem seit Jahren verboten wird, Emotionen in Bezug auf sich selbst zu äußern.“ Die Zustimmung zu seiner Spendenaktion sei „ein Schrei der Franzosen nach Ordnung, eine Bittschrift um Ordnung, ein Liebesschrei für seine Ordnungskräfte, die der letzte Wall gegen das Chaos, das Sie verkörpern“, sagte er zu seinem grummelnden Gesprächspartner gewandt, der ihn eigentlich nicht ausreden lassen wollte.
In Lorient ließ es die Polizei geschehen, dass man ihr half
Die Polizeipräsenz bleibt hoch auf den Straßen Frankreichs (angeblich 45.000). Die Feuer, andere Straftaten und Festnahmen gingen weiter zurück. Insgesamt haben in sieben Nächten über 5.800 Fahrzeuge und über 1.000 Gebäude gebrannt. In der Nacht zum Donnerstag dieser Woche wurden noch 20 Personen in ganz Frankreich im Zusammenhang mit den Unruhen festgenommen. Daneben gibt es weiterhin Nachrichten von Bürgern und Bürgergruppen, die nachts auf den Straßen aufmarschieren, um Unruhestifter abzuschrecken. Eine Art Nordirland-Szenario, das sicher zum Teil schon auf der Wirklichkeit beruht, dass es getrennte Viertel für Herkunftsfranzosen und Franzosen durch den Geburtsort gibt.
In Lorient in der Bretagne wird nun eine solche Aktion genauer untersucht, und zwar von der Armee. In den Nächten der schlimmsten Unruhen sollen sich dort rund zehn Marinesoldaten den Ordnungskräften angeschlossen haben, um Straftaten einzudämmen. Insgesamt 4000 Militärs sind auf der Marinebasis Lorient stationiert. Die Infanteristen waren dabei offenbar in Zivilbekleidung unterwegs, teils mit Kapuzen oder auch vermummt. Die Gruppe von 25 jungen Männern, zu denen auch Zivilisten gehören, nennen sich „anti-casseurs“, eine zivile „Anti-Randalier-Einheit“ sozusagen. Der Zeitung Ouest-France sagte einer von ihnen: „Wer wir sind? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber wir sind auf der guten Seite… Letztlich ist es gleich, ob wir Soldaten, Apotheker oder Fahrradverkäufer sind. Die Hauptsache ist, was wir gemacht haben.“
Der Bürgermeister von Lorient sagte zu den Vermutungen: „Keine Miliz ist an der Seite oder anstatt der Polizei tätig.“ Doch eine anonyme Polizeiquelle bestätigte, man habe „es am frühen Abend geschehen lassen, weil es uns entlastet hat“. Allerdings weist auch der Figaro darauf hin, dass eine solche Art der „Amtshilfe“ keineswegs illegal sein muss, wie der französische Strafkodex festlegt: „Im Falle eines flagranten Verbrechens oder Vergehens, das mit einer Freiheitsstrafe geahndet wird, ist jede Person berechtigt, den Täter zu ergreifen und ihn dem nächstgelegenen Beamten der Kriminalpolizei vorzuführen“, heißt es da.
Ein mannshohes Problem, zu lösen durch „Vertrauen“
Am Donnerstagmorgen erklärte Präsident Emmanuel Macron vor rund 70 Amtsträgern aus der Region Pau im Südwesten des Landes, man wolle sehr bald, in den kommenden Wochen „tiefgreifende Entscheidungen“ treffen. Was aber in Pau folgte, waren ziemlich neblige Formulierungen, die Macron zu einem undurchsichtigen Aktionsplan zusammenrührt. Es gebe ein „Autoritätsproblem in unserer Gesellschaft“. Sein Rezept dagegen: Es solle „wieder Menschlichkeit“ in das „kollektive Handeln vor Ort“ einziehen. Also menschlich, aber kollektiv? Bedeutet das nun, dass kriminelle Randalierer es mit dem Gesetz zu tun bekommen? Macron wirkt etwas flüchtig in diesen Tagen, wie ein Heer in offener Auflösung, beim ungeordneten Rückzug.
Die Antwort auf die Probleme sei „manns- und frauhoch“, genderte der Präsident ein wenig weiter. Das Problem ist also groß, aber die Lösung soll angeblich nur durch „Vertrauen“ erreichbar sein, nicht durch „technische Maßnahmen, Rundschreiben und Projektaufrufe“. Das Einzige, was von dieser „Vertrauensoffensive“ des Präsidenten wahrzunehmen ist, bleibt aber die Forderung nach stärkerer Kontrolle der sozialen Medien, vor allem der bei Jugendlichen beliebten Anwendungen TikTok und Snapchat. Während der Unruhen seien Inhalte blockiert und Nutzerkonten suspendiert worden – beides durch die Plattformen selbst, auf Bitten der Regierung, wie Regierungssprecher Olivier Véran im Fernsehsender LCI mitteilte. Es handelt sich um ein Rezept aus Ländern, die man wohl nicht zu den freiesten und am besten entwickelten zählen wird.
Véran wünscht sich hier noch mehr Spielraum von der Legislative. Macron hatte am Dienstag davon gesprochen, man könne die sozialen Netzwerke auch „abschalten“, wenn die Geschehnisse außer Kontrolle geraten. Später wurde von Mitarbeitern des Élysée präzisiert, dass damit kein genereller „Blackout“ gemeint sei, sondern eine „punktuelle und zeitweilige Suspendierung der sozialen Netzwerke“. Von Teilen der Opposition gab es starke Reaktionen auf diesen Vorschlag. Der Republikaner Olivier Marleix schrieb auf Twitter: „Die sozialen Netzwerke abschalten? Wie in China, dem Iran, Nordkorea?“ Das sei eine Provokation, die schlechten Geschmack verrate.
Inzwischen soll Macron vor Abgeordneten seiner Renaissance-Fraktion zum politischen Nahkampf gegen die ultralinke Partei La France insoumise (LFI) aufgerufen haben, wie das Wochenmagazin Valeurs actuelles meldet. „Lasst ihnen nichts durchgehen! Die Mélenchonisten haben alles unterboten. Sie nutzen die Unordnung als Spielfeld.“ Premierministerin Élisabeth Borne warf der Partei vor, das „republikanische Lager“ verlassen zu haben, als sie sich weigerte, zur Ruhe zu rufen. Marine Le Pen will auch die Partner aus dem Linksbündnis NUPES nicht von dieser Kritik ausnehmen: Auch Grüne und Sozialisten hielten der France insoumise die Treue.
Le Pen zu Borne: Sie haben Unrechtszonen zugelassen
Marine Le Pen (RN) forderte in einer Intervention in der Nationalversammlung von Premierministerin Élisabeth Borne (Renaissance), endlich etwas zu unternehmen, um die Fehler ihrer und der vorangegangenen Regierungen auszuwetzen. „Was haben Sie aus Frankreich gemacht?“, fragte Le Pen mit feurigem Temperament. Diese Politik habe Unrechtszonen in Frankreich zugelassen, in denen sich Kriminalität, eine Ignoranz der französischen Kultur, die Feindschaft gegenüber dem Staat und der Hass auf das französische Volk breitmachten. Die geschehenen Unruhen lassen laut Marine Le Pen das Schlimmste für die Durchführung der Olympischen Spiele 2024 in Paris befürchten. Die Schlussfolgerung ist laut Le Pen eindeutig: Die „anarchische Zuwanderung“ müsse gestoppt werden, Parallelgesellschaften und der daraus sprießende Separatismus müssten als Probleme angegangen werden. Auch die Autorität der Eltern will Marine Le Pen stärken und die Schule wieder zum „Schmelztiegel“ der Nation machen.
Und auch die Justiz müsse, es ist der Refrain Le Pens, wieder ihre alte Unnachgiebigkeit erlangen. In der Tat: Mehr als 700 verletzte Polizisten und dutzende Millionen Euro Schäden in wenigen Nächten sprechen eine deutliche Sprache. Generell sagt Le Pen: „Es werden Millionen von Straftaten in unserem Land begangen. Aber die strafrechtliche Antwort bleibt aus.“ Ergangene Strafen würden nicht vollstreckt. Bei einem Urteil unter zwei Jahren sei es praktisch ausgeschlossen, dass die Haftstrafe auch wirklich verbüßt wird – „um von der Straffreiheit der Minderjährigen zu schweigen“. Der Figaro und andere erwidern hier, dass seit letztem Dienstag 3.625 Personen vorläufig festgenommen worden seien, darunter auch 1.124 Minderjährige. Doch das ist kein wirklicher Einwand. Die Frage ist, welche Strafen daraus folgen werden. Außerdem sagen die zweifellos hohen Zahlen nichts darüber aus, wie viele Straftäter im allgemeinen Chaos nicht ergriffen wurden.
Im öffentlichen Fernsehsender France 2 sprach Marine Le Pen über die Unruhen und, was aus ihnen folgt. Sie hebt hervor, dass nicht nur die Großstädte betroffen waren, sondern ebenso die kleineren Städte und Dörfer. Besonders griff sie die Straflosigkeit der Minderjährigen als „Wachstumshormon“ für die Kriminalität an, forderte eine Rückkehr der staatlichen Autorität. Das Geburtsortsprinzip beim Staatsbürgerschaftsrecht („droit du sol“) will sie abschaffen. Dass man seine Kinder gut erziehen muss, gilt für Le Pen in jedem Viertel gleichermaßen und für alle alleinerziehenden Mütter gleichermaßen. Das sind allerdings die Einwände des politisch-korrekten TV-Journalismus in Frankreich, dass die Vorstadtmütter besonders benachteiligt seien und deshalb ihre Söhne nicht zur Raison brächten. Jeder weiß, dass das andere, kulturelle Ursachen hat.
Kevins oder nicht Kevins?
Innenminister Gérald Darmanin sagte in einer Pressekonferenz, es gebe „viele Kevins und Matteos“ unter den festgenommenen Tätern. Eine vollständige Vornamenliste veröffentlichte er nicht. Nur so ließe sich seine Aussage auch quantitativ bewerten. Einer von diesen „Kevins“ trat vermummt im Sender BFM TV auf und zeigte einen anderen (auch sprachlichen) Phänotyp als der gewöhnliche „Kevin“. Er gab zu, mit dem Feuerwerksmörser auf Polizisten geschossen und Steine geworfen zu haben. Im Grunde nichts Schlimmes, wie er zusammenfasste, im Vergleich mit der Polizei, die mordend durch die Viertel zöge. Außerdem würden weiße Franzosen ohnehin milder bestraft als Angehörige seiner ethnischen Gruppe (Nordafrikaner). Viele Videos zeigen, woher ein Großteil der Randalierer kommen, auch wenn die meisten von ihnen einen französischen Pass haben dürften.
Der Chef der Républicains im Senat, Gérard Larcher, rief dazu auf, „der Wahrheit ins Auge zu sehen“, auch wenn man keinen undefinierten „Hass“ nähren dürfe. Für Larcher geht es nicht mehr um Ausgabenprogramme für die Banlieues. Stattdessen fordert er eine Regulierung der Migrationsströme. Das geplante Einwanderungsgesetz müsse an dieser Stelle geschärft werden. Das will Innenminister Darmanin anscheinend verhindern. Doch der Konservative stellt hier bereits ein Ultimatum: „Wenn er nicht auf uns hören will, wird es kein Gesetz geben.“ Auch Larcher spricht – ebenso wie Marine Le Pen – über das „Amalgam“ der Stunde – eine nach einigen unzulässige, nach anderen sich aufdrängende Verbindung zweier Themen: zum einen der Unruhen vor allem der letzten Woche, zum anderen der Immigration. Das unterscheidet die französischen Republikaner von der deutschen CDU.
Larcher will alle beschädigten öffentlichen Gebäude genauso wiederherstellen, wie es derzeit mit der Kirche Notre-Dame in Paris geschieht. Auch die Rathäuser seien „Symbole der Republik“ wie die Kathedrale. Derweil hat Éric Zemmour gefordert, dass die Kosten für diesen Wiederaufbau von den Randalierern getragen werden. Auch Macron machte hier einen kleinen Recht-und-Ordnung-Vorschlag: Eltern, deren Kinder über die Stränge schlagen, solle man „vom ersten Mist an, den sie bauen“, mit Bußgeldern belegen, statt ihnen noch mehr Sozialleistungen zu überlassen. Es gebe ein „Autoritätsproblem in unserer Gesellschaft“. Das politische Magazin Marianne hat dennoch Zweifel, ob Macron genügend innere Stärke für eine solche Null-Toleranz-Politik hat.