Der französische Marsch gegen den Antisemitismus war ein Erfolg, auch wenn sich so mancher eine noch deutliche Aussprache dazu gewünscht hätte, warum, wegen welcher Übel man überhaupt marschierte, nämlich gegen den „islamistischen Antisemitismus“ und die „Komplizenschaft der extremen Linke“, wie es der französisch-israelische Anwalt und Kolumnist Gilles-William Goldnadel sagte. Doch sei’s drum: Mehr als 100.000 Franzosen versammelten sich am Sonntag in Paris, 77.000 im restlichen Frankreich, in Marseille, Straßburg, Bordeaux, Lyon und anderen Städten und Gemeinden. In Paris waren die Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande dabei, daneben Politiker fast aller Parteien – so auch Marine Le Pen und Jordan Bardella mit den Abgeordneten des Rassemblement national (RN). Eine kleinere Delegation stellte Éric Zemmour, selbst Jude algerischer Herkunft, zusammen mit Marion Maréchal und anderen aus der neugegründeten Reconquête-Partei.
Zumal die Anwesenheit Marine Le Pens blieb für viele ein schwer verdauliches Geschehen. Die eher links der Mitte angesiedelte Tageszeitung Le Monde fragte verschiedene Teilnehmer der Demonstration, ob die Anwesenheit des RN kein Problem sei. Der Küchenchef Thierry Marx, bekannt für seine Molekularküche und mehrfach michelin-besternt, verneinte: „Wenn man sich als Bürger betroffen fühlt, muss man hier dabei sein.“ 71 Prozent der Franzosen stimmten Marx zu, dass möglichst alle an diesem Marsch teilnehmen sollten – auch die Partei von Marine Le Pen.
Das Vorhaben der Regierung, den RN auszuschließen und zum Paria zu machen, war damit offenkundig gescheitert. Der mitmarschierende Filmregisseur Élie Chouraqui, ein sephardischer Jude mit algerischem Hintergrund, fühlte sich eher durch jene beschämt, die nicht da waren, als durch die, die kamen: „Zu sagen, dass man wegen des RN nicht kommt, ist eine Ausflucht. Der Kampf gegen den Antisemitismus ist keine politische Sache, sondern eine humanistische, universelle Sache.“ Just jene Ausflucht benutzte aber der linke Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, der den Marsch als Versammlung „der Rechten und der extremen Rechten“ beschrieb.
„Macron hat ein Rendezvous mit der Geschichte verpasst“
Und so fehlten nur zwei auf der landesweiten Demonstration gegen den Antisemitismus. Da war einmal der Präsident der Republik, weil er lieber erhaben über den Parteien schwebt, für „Einheit“ sorgt und angeblich nie zu einer Demonstration gehen würde, dafür aber „mit dem Herzen und dem Denken“ da sein wollte. Zum zweiten Mélenchons ultralinke Partei „Aufsässiges Frankreich“ (La France insoumise, LFI), die die Solidarität mit Israel ganz grundsätzlich ablehnt und sich stattdessen eindeutig auf die Seite der Palästinenser und damit der Terrororganisation Hamas stellt.
Die Demonstration war teils eine tränenreiche Angelegenheit. Wo sie erzählen oder nur etwas sagen sollten, hatten viele Teilnehmer feuchte Augen. Ein 80-jährige Armenier Vartan Kaladjian, verheiratet mit einer Jüdin, sagte laut Le Monde: „Für uns ist es eine doppelte Strafe.“ Er will nicht zulassen, dass es noch mehr Attentate gibt. Dagegen hält Kaladjian das Demonstrieren für nützlich. Die Anwesenheit der Rassemblement national stört auch ihn nicht dabei. Vor allem hätte sich der Mann gewünscht, dass auch der Präsident gekommen wäre, „um allen zu zeigen, dass er auf unserer Seite ist“.
Für RN-Chef Jordan Bardella ist klar, dass Präsident Macron „ein Rendezvous mit der Geschichte verpasst hat“. Die altehrwürdige Zeit verstand nun bald gar nichts mehr und fragte sich: „Hat der Antisemitismus unter dem Eindruck des Kriegs im Nahen Osten möglicherweise die Seiten gewechselt, ist er von Rechts nach Links gewandert?“
Es sieht beinahe so aus, nicht nur wenn man dem Erzlinken Mélenchon glauben mag, dass das Ganze ja nur eine Ansammlung von Rechten und sehr Rechten sei. Es waren freilich die Sozialisten und Grünen aus dem Linksbündnis NUPES gekommen, auch die parteipolitische Macronie war trotz Einwänden erschienen. Und es hilft auch nichts, sich auf die zeitlich knapp bemessene Intervention einer jüdischen linksradikalen Gruppe Golem zu konzentrieren. Die Polizei hielt die Aktivisten-Gruppe von den Vertretern des Rassemblement fern.
Frankreichs andere Sorgen und die „beschissene“ Politik
Für den Historiker Grégoire Kauffmann ist das „ein wesentlicher Moment in der Geschichte der Partei der extremen Rechten“, weil sie am Ende an einer nationalen Front gegen den Antisemitismus beteiligt wurde. Die Zeit meint dazu, die Partei habe „drei Stunden lang unbehelligt mitmarschieren“ können. Womit hätte man die Abgeordneten auch behelligen sollen?
Erfahrene Beobachter wie der Ex-Minister Pierre Lellouche (Les Républicains), selbst übrigens in Tunis geboren, weisen darauf hin, dass das Land längst andere Sorgen habe, als über den Ausschluss der zweitgrößten Fraktion im Parlament von einer solchen Demonstration nachzudenken. Vielmehr brächen in Frankreich gerade „wirkliche Gräben entlang religiöser und ethnischer Linien“ auf, die durch die bestehende internationale Lage noch stärker sichtbar werden.
Zuvor hatte Lellouche das Stellen der Frage „RN ja oder nein?“ im Videoformat des Figaro ganz unverblümt als ziemlich „beschissen“ („merdique“) bezeichnet. Das sind Töne von einer schon großen Offenheit, die hier ein lange etablierter Politiker und Kommentator anstimmt.
Angriffe auf Juden setzen sich fort
Derweil wurde in Marseille ein Senator aus der Zemmour-Partei Reconquête von zwei Antifas angegriffen und mit Asche aus einem Sack überschüttet. Diese Täter waren in der Minderheit. Immerhin war Éric Zemmour gerade erst aus Israel zurückgekommen, wo er laut Eigenaussage „die jüdisch-christliche Zivilisation verteidigen“ wollte. Diesem Ziel – wie immer man es auch erreicht – können (und wollen) immer weniger Franzosen widersprechen.
Seit dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel haben sich die antisemitischen Vorfälle in Frankreich vervielfacht. Es wurden 1250 Übergriffe gezählt, das sind dreimal mehr als im gesamten Jahr 2022 – also eine Zunahme um den Faktor 36! Ähnliche Zahlenverhältnisse werden aus Großbritannien berichtet.
In Deutschland tun sich Behörden und zivile Akteure schwer damit, umfassende Zahlen zu präsentieren. Für die Woche nach dem 7. Oktober stellten die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) bundesweit 202 Vorfälle fest, was einem Anstieg von 240 Prozent entspricht. Eine darüber hinausgehende Auswertung gibt es laut RIAS noch nicht, wohl aber die Auskunft des BKA, dass es allein 2.000 antisemitisch zu wertende Straftaten seit dem 7. Oktober gab, spricht für sich. Die antisemitischen Vorfälle dürften leider eine noch deutlich höhere Zahl erreicht haben.