An wie viele Zufälle will man glauben? Der italienische Infrastrukturminister Matteo Salvini, der als früherer Innenminister mit seiner Politik der „geschlossenen Häfen“ europaweit für Furore sorgte, sich mit Carola Rackete anlegte und als Aushängeschild rigider Einwanderungspolitik gilt, meldete sich infolge der Lampedusa-Krise zu Wort: von „Mutterschiffen“ war die Rede und Andeutungen, dass die Zange, in die Italien derzeit genommen wird, nicht nur von jenseits des Meeres, sondern auch von jenseits der Alpen kommt. Salvini bezeichnete die Ankunft der Migranten als „Kriegsakt“; stellte aber genauso deutlich heraus, dass dies eine Symbol für das „sozialistisch regierte Europa“ sei.
Salvinis doppelte Attacken drücken nicht nur das Gefühl, sondern die Auffassung Roms dessen aus, was derzeit geschieht. Früher hat Italien darüber lamentiert, die EU lasse das Land bei der Grenzkontrolle allein. Seit den letzten Tagen hat sich der Ton verschärft. Zwischen den Zeilen wirft man der EU nicht nur Boykott, sondern Verrat vor. Die Frage ist berechtigt, wieso in den letzten Tagen die Anzahl der Boote explodiert ist. Der Vorwurf lautet: das Tunesien-Abkommen, das unter Federführung Giorgia Melonis zustande kam, taugt nichts. Den Ball spielt Rom in Richtung Brüssel zurück: das Abkommen werde gar nicht umgesetzt, gar von den EU-Linken boykottiert, um Europa dem Migrationsstrom auszuliefern.
Das zu den linken Parteien auch der Partito Democratico gehört, der sich seit Jahren als europäischer Statthalter in Italien geriert, überrascht dabei nicht; umso mehr zeigt der Fall, dass im supranationalen und geopolitischen Spiel Nationalitäten und nationale Interessen keine Rolle mehr spielen. Hier agiert eine Funktionselite gegen die Interessen des eigenen Landes, um die höhergestellten Interessen ideologischer, parteipolitischer und supranationaler Art durchzusetzen. Fakt ist, dass das Geld, das zur Unterbindung des Menschenhandels von EU-Seite eintreffen sollte, bisher nicht angekommen ist – und das betrifft auch die Unterstützung der tunesischen Sicherheitsbeamten und der Nationalgarde. Dass man in deutschen Medien dazu nur liest, der Deal helfe nicht, sei kontraproduktiv oder Tunesien „Immer noch“ Hauptabfahrtsland, ist vielsagend. Die Antwort auf die Frage, was für einen Vorteil es hat, das eigene Land mit illegalen Zuwanderern unter Druck zu setzen, ist nicht schwer zu finden: die italienische Linke hofft, die Regierung in Rom zu destabilisieren und sich die Macht zurückzuholen.
Dass Deutschland vor zwei Tagen wegen der italienischen Missachtung der Dublin-Regeln die freiwillige Aufnahme von Migranten ausgesetzt hat, ist zwar für Rom ärgerlich, aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Über den Mechanismus hat Deutschland bisher 1.043 Migranten aufgenommen; im Gegensatz dazu hat Deutschland 12.400 Migranten de facto aufgenommen, weil Italien sich gegen die Zurückweisung wehrt. Nach italienischer Ansicht sind wiederum die rund 1.000, die Deutschland freiwillig aufnimmt, kaum vergleichbar mit der Anzahl von Geschleusten, die deutsche NGOs wöchentlich über das Mittelmeer ans italienische Festland bringen.
Die zentrale Frage, um die das Geschehen – und hier ist der eigentliche Knackpunkt – kreist, lautet: wo wird die Migrationspolitik entschieden? Seit 2015 hat Deutschland de facto mit seiner Aufnahmehaltung diese Politik europäisch bestimmt. Die Minderheitenpositionen von 2015, wie sie Polen und Ungarn damals vertraten, sind aber mittlerweile über Mittelosteuropa hinaus salonfähig geworden. Wie damals Ungarn muss heute Italien schauen, welche Rolle es als Transitland einnimmt.
Dabei dürfte man durchaus darüber spekulieren, dass die Weiterleitung von Migranten für die Meloni-Regierung über die Alpen nicht nur aus inneritalienischen, sondern auch weitergehenden Politikinteressen ein Faustpfand in mehrfacher Hinsicht ist. Nach 16 Jahren Merkel und der Absetzung Silvio Berlusconis wäre man in Rom durchaus interessiert daran, wenn man nördlich der Alpen aufgrund innerer Probleme mit sich selbst beschäftigt ist – dass hohe Migrationszahlen ein Antreiber für die AfD sind, weiß man in Rom. In einem Jahr sind EU-Wahlen, und je weniger Prozente die großen Parteien in Deutschland einfahren, umso größer die Chance, den deutschen Einfluss in der EU-Kommission – Stichwort: Von der Leyen und Green Deal – zu begrenzen.
Die Lampedusa-Krise hat zugleich eine frappierende Ähnlichkeit mit den Zuständen am Budapester Hauptbahnhof. Die Strategie Viktor Orbáns 2015 lief damals nicht zuletzt darauf hinaus, die Zustände als Möglichkeit zu nutzen, die Ausrichtung der EU-Migrationspolitik zu ändern. Der ganze Kontinent sollte sehen, dass man mit Utopien der Lage nicht Herr werden konnte – und dass die Migranten nicht vor etwas flohen, sondern gezielt zu einem Ort hinzogen. Ganz offenbar spielt sich etwas sehr Ähnliches derzeit auf Lampedusa ab. Immer noch lautet die Analyse in linken deutschen Medien nicht, dass Italien zu wenig gegen illegale Migration tue, sondern dass Rom nicht helfe, seine Pflichten vernachlässige und Migranten ertrinken lasse.
Bleibt noch ein letztes Kapitel: nämlich Matteo Salvini selbst, der in diesen Tagen, obwohl in einem anderen Ressort tätig, vermehrt die Migrationsfrage artikuliert und anders als Meloni die Front abdeckt. Er würde „alles wieder genauso machen“, antwortet er auf Nachfrage. Gemeint ist sein rigides Vorgehen in seiner Zeit als Innenminister, als die Zahl der Ankünfte drastisch abnahm. Plötzlich steht der „Capitano“ wieder im Rampenlicht.