Tichys Einblick
Wortführer Salvini

Lampedusa: Signal an Berlin, nicht an Rom

Die Lampedusa-Krise ist ein geopolitisches Schattenspiel um die Auflösung von Verträgen, Druck auf die römische Regierung und die Destabilisierung Deutschlands. Die Parallelen zu Ungarn 2015 sind frappierend.

Migranten warten am Hafenpier, um an Bord des Militärschiffs Cassiopea von der Insel Lampedusa an andere Orte gebracht zu werden, 15. September 2023

IMAGO / ZUMA Press

An wie viele Zufälle will man glauben? Der italienische Infrastrukturminister Matteo Salvini, der als früherer Innenminister mit seiner Politik der „geschlossenen Häfen“ europaweit für Furore sorgte, sich mit Carola Rackete anlegte und als Aushängeschild rigider Einwanderungspolitik gilt, meldete sich infolge der Lampedusa-Krise zu Wort: von „Mutterschiffen“ war die Rede und Andeutungen, dass die Zange, in die Italien derzeit genommen wird, nicht nur von jenseits des Meeres, sondern auch von jenseits der Alpen kommt. Salvini bezeichnete die Ankunft der Migranten als „Kriegsakt“; stellte aber genauso deutlich heraus, dass dies eine Symbol für das „sozialistisch regierte Europa“ sei.

Salvinis doppelte Attacken drücken nicht nur das Gefühl, sondern die Auffassung Roms dessen aus, was derzeit geschieht. Früher hat Italien darüber lamentiert, die EU lasse das Land bei der Grenzkontrolle allein. Seit den letzten Tagen hat sich der Ton verschärft. Zwischen den Zeilen wirft man der EU nicht nur Boykott, sondern Verrat vor. Die Frage ist berechtigt, wieso in den letzten Tagen die Anzahl der Boote explodiert ist. Der Vorwurf lautet: das Tunesien-Abkommen, das unter Federführung Giorgia Melonis zustande kam, taugt nichts. Den Ball spielt Rom in Richtung Brüssel zurück: das Abkommen werde gar nicht umgesetzt, gar von den EU-Linken boykottiert, um Europa dem Migrationsstrom auszuliefern.

Tausende kommen, tausende werden transferiert
Notstand auf Lampedusa nach Anlandung von tausenden Migranten an nur einem Tag
Das von Italien initiierte Zusammengehen mit dem Maghreb-Staat funktioniert demnach nicht, weil die Zahlungen, die die EU zugesagt hat, bis heute nicht in Tunis eingetroffen seien. Während derzeit die Lage im Mittelmeer eskaliert, haben die Linken in Brüssel das vordringliche Ziel, den Tunesien-Deal auszuhebeln oder zumindest auszusetzen. Pikant sind die Hintergründe. Die Sozialisten im EU-Parlament hatten sich mit der tunesischen Opposition treffen wollen, Tunis hatte das untersagt. Die tunesische Opposition besteht allerdings nicht nur aus säkularen Gewerkschaftsführern, sondern auch aus Gruppierungen, die den örtlichen Muslimbrüdern nahestehen. Es ist zudem diese Opposition, die das Land im „Arabischen Frühling“ ins Chaos stürzte und zur Instabilität Tunesiens führte, indes der regierende Kais Saied zumindest versucht, die Ordnung in dem Land aufrechtzuerhalten.

Das zu den linken Parteien auch der Partito Democratico gehört, der sich seit Jahren als europäischer Statthalter in Italien geriert, überrascht dabei nicht; umso mehr zeigt der Fall, dass im supranationalen und geopolitischen Spiel Nationalitäten und nationale Interessen keine Rolle mehr spielen. Hier agiert eine Funktionselite gegen die Interessen des eigenen Landes, um die höhergestellten Interessen ideologischer, parteipolitischer und supranationaler Art durchzusetzen. Fakt ist, dass das Geld, das zur Unterbindung des Menschenhandels von EU-Seite eintreffen sollte, bisher nicht angekommen ist – und das betrifft auch die Unterstützung der tunesischen Sicherheitsbeamten und der Nationalgarde. Dass man in deutschen Medien dazu nur liest, der Deal helfe nicht, sei kontraproduktiv oder Tunesien „Immer noch“ Hauptabfahrtsland, ist vielsagend. Die Antwort auf die Frage, was für einen Vorteil es hat, das eigene Land mit illegalen Zuwanderern unter Druck zu setzen, ist nicht schwer zu finden: die italienische Linke hofft, die Regierung in Rom zu destabilisieren und sich die Macht zurückzuholen.

Merkels fahrlässige Welteinladung
Lampedusa und die Dankbarkeit
Doch dieses Unterfangen verlief bisher nicht nach Plan. Denn anders als vermutet schadet die seit dem Frühling anhaltende Migrationskrise der Meloni-Regierung nicht. Das mag überraschen, hängt aber offenbar damit zusammen, dass anders als in der Migrationskrise von 2016 bisher die Migranten nicht die Stadtbilder prägen und damit greifbar werden. Da Italien mittelfristig auch keine weiteren Anreize für Migranten bieten will – die Abschaffung des Bürgergeldes und der Abbau der Privilegien für Schutzsuchende sind da nur zwei Beispiele – bleibt das Land lediglich Zwischenstation für jene, die sowieso weiterziehen wollen. Da Deutschland einerseits Anreize für die ganze Welt bietet, aber andererseits möchte, dass andere sich um die „schlimmen Bilder“ kümmern, die das Bild des benevolenten Weltenretters zerstören könnten, hat Italien im letzten Dreivierteljahr sich dagegen gewehrt, in Italien angekommene Migranten zurückzunehmen. Salopp könnte man die Haltung damit zusammenfassen, dass, wer illegale Migranten will, sie auch bekommt.

Dass Deutschland vor zwei Tagen wegen der italienischen Missachtung der Dublin-Regeln die freiwillige Aufnahme von Migranten ausgesetzt hat, ist zwar für Rom ärgerlich, aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Über den Mechanismus hat Deutschland bisher 1.043 Migranten aufgenommen; im Gegensatz dazu hat Deutschland 12.400 Migranten de facto aufgenommen, weil Italien sich gegen die Zurückweisung wehrt. Nach italienischer Ansicht sind wiederum die rund 1.000, die Deutschland freiwillig aufnimmt, kaum vergleichbar mit der Anzahl von Geschleusten, die deutsche NGOs wöchentlich über das Mittelmeer ans italienische Festland bringen.

Die zentrale Frage, um die das Geschehen – und hier ist der eigentliche Knackpunkt – kreist, lautet: wo wird die Migrationspolitik entschieden? Seit 2015 hat Deutschland de facto mit seiner Aufnahmehaltung diese Politik europäisch bestimmt. Die Minderheitenpositionen von 2015, wie sie Polen und Ungarn damals vertraten, sind aber mittlerweile über Mittelosteuropa hinaus salonfähig geworden. Wie damals Ungarn muss heute Italien schauen, welche Rolle es als Transitland einnimmt.

NGO-Schiffe
NGO-Monopoly: Lampedusa, die Schloßallee in die EU
Dabei dürfte man durchaus darüber spekulieren, dass die Weiterleitung von Migranten für die Meloni-Regierung über die Alpen nicht nur aus inneritalienischen, sondern auch weitergehenden Politikinteressen ein Faustpfand in mehrfacher Hinsicht ist. Nach 16 Jahren Merkel und der Absetzung Silvio Berlusconis wäre man in Rom durchaus interessiert daran, wenn man nördlich der Alpen aufgrund innerer Probleme mit sich selbst beschäftigt ist – dass hohe Migrationszahlen ein Antreiber für die AfD sind, weiß man in Rom. In einem Jahr sind EU-Wahlen, und je weniger Prozente die großen Parteien in Deutschland einfahren, umso größer die Chance, den deutschen Einfluss in der EU-Kommission – Stichwort: Von der Leyen und Green Deal – zu begrenzen.

Die Lampedusa-Krise hat zugleich eine frappierende Ähnlichkeit mit den Zuständen am Budapester Hauptbahnhof. Die Strategie Viktor Orbáns 2015 lief damals nicht zuletzt darauf hinaus, die Zustände als Möglichkeit zu nutzen, die Ausrichtung der EU-Migrationspolitik zu ändern. Der ganze Kontinent sollte sehen, dass man mit Utopien der Lage nicht Herr werden konnte – und dass die Migranten nicht vor etwas flohen, sondern gezielt zu einem Ort hinzogen. Ganz offenbar spielt sich etwas sehr Ähnliches derzeit auf Lampedusa ab. Immer noch lautet die Analyse in linken deutschen Medien nicht, dass Italien zu wenig gegen illegale Migration tue, sondern dass Rom nicht helfe, seine Pflichten vernachlässige und Migranten ertrinken lasse.

Und warum sind kritische Stimmen Minderheit?
Weiß Politik nicht, mit welchen Zeitbomben sie hantiert?
Lampedusa ist deswegen auch kein Signal an Rom, sondern eines an Berlin. Anscheinend provoziert die Orbán-Schülerin Meloni dieselbe Situation wie Ungarn im Sommer 2015. Wohl wissend, dass wenn Deutschland migrationspolitisch nicht einknickt, sie zumindest Konzessionen herausschlagen kann. Und sollte das nicht helfen, dürften die deutschen Medien ihren Anteil daran haben, dass genügend Druck auf einer linksliberalen Regierung lastet, um das italienische Migrationsproblem zu einem deutschen zu machen. Rom spekuliert darauf, dass Deutschland bei den NGOs einlenkt, sich an den Kosten des Grenzschutzes beteiligt oder auf Einhaltung des Tunesien-Deals pocht. Noch Anfang der Woche hatten Italien seinen Pragmatismus gezeigt, wenn es um die Besetzung der Posten in den europäischen Banken geht. Womöglich spekuliert man auf ähnlich rationales Auskommen in der Migrationsfrage. Wie ideologisch diese aufgeladen ist – politisch wie medial – und damit ähnlich wie 2015 enden könnte, scheint man sich in Rom nicht vorstellen zu können. Und selbst wenn: für Ungarn und Orbán ging die Sache am Ende glimpflich aus. Anders als für Deutschland.

Bleibt noch ein letztes Kapitel: nämlich Matteo Salvini selbst, der in diesen Tagen, obwohl in einem anderen Ressort tätig, vermehrt die Migrationsfrage artikuliert und anders als Meloni die Front abdeckt. Er würde „alles wieder genauso machen“, antwortet er auf Nachfrage. Gemeint ist sein rigides Vorgehen in seiner Zeit als Innenminister, als die Zahl der Ankünfte drastisch abnahm. Plötzlich steht der „Capitano“ wieder im Rampenlicht.

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