Der Kurz’sche Schachzug vom Bundeskanzler zum Klubobmann im Nationalrat war nur ein Zwangszug, um Zeit für einen richtigen zu gewinnen. Ob Sebastian Kurz das selbst klar war? Vermutlich nicht. Jedenfalls nicht länger vor dem Zug. Nun hat er den Schach-König selbst umgeworfen und die Partie beendet.
Seine Gegner innerhalb der ÖVP und außerhalb, allen voran die in den Medien, sind sich einig im Tenor vom Ende der Ära Kurz. Das ist zu kurz gedacht. Und vergisst wohl, dass der ÖVP vor Kurz bald keine Volkspartei mehr drohte. Sonst hätte er nie die unglaublichen Vollmachten des Obmanns in der Parteisatzung an sich ziehen können – und das Machtgefüge der ÖVP aus Bünden, Landeshauptleuten und Bundespartei revolutionieren.
Übergangskanzler Schallenberg wird wieder Außenminister. Kanzler wird Innenminister Nehammer. Finanzminister Blümel aus Kurz‘ türkiser Neuer Volkspartei bleibt nicht der Einzige, der sich mit ihrem Erfinder aus der aktiven Politik zurückzieht. Die Zeit der Neuen Volkspartei ist anders als die ihrer tragenden Leute tatsächlich vorbei. Die alte ÖVP, die schwarze, ist wieder da. Und ihr stehen Wahlergebnisse ins Haus, wie sie die ÖVP vor Kurz erlitt. Dass die ÖVP bei der nächsten Nationalratswahl wieder auf Platz 1 landet, ist ausgeschlossen – hingegen Platz 3 nicht unmöglich.
Aber das laute Knirschen im Gebälk der ganzen Volkspartei sollte niemanden darüber hinwegtäuschen, dass das ganze österreichische Parteiengefüge wackelt. Der bisherige Innenminister Karl Nehammer als Kanzler: Auch er ist ein Teil der Kurz’schen Türkisen, hat in der ÖVP die gleichen Gegner, mal schau’n, ob die Schwarzen den Türkisen als einen der ihren aufnehmen.
Gewinner der Lage könnte die SPÖ sein. Doch dort ist nicht entschieden, ob der Wiener Bürgermeister und Landeshauptmann Michael Ludwig oder sein burgenländischer Kollege Hans Peter Doskozil anstelle der derzeitigen Obfrau Pamela Rendi-Wagner die SPÖ in Nationalratswahlen führen wird.
Die Grünen sind gefangen zwischen zwei Lagern. Denen einerseits, die lieber heute als morgen die Koalition mit den Schwarzen verlassen und zu Rot-Grün-Pink, also SPÖ und NEOS wechseln möchten – zur österreichischen Ampel. Und andererseits jenen vielen in der ersten, zweiten und dritten Reihe, die Angst haben, dabei ihre angenehmen Posten zu verlieren.
Die FPÖ wird Wähler von der ÖVP zurückgewinnen. Dass die ÖVP im Moment auf Nehammer als Kanzler setzt, ist auch der Versuch, Verluste an die FPÖ klein zu halten. Denn Nehammer steht für die Fortsetzung der Kurz’schen Migrationspolitik, die allerdings immer mehr aus Anti-EU-PR bestand denn aus tatsächlicher Politik. Je nachdem wie die Machtkämpfe bei Grünen und SPÖ ausgehen, ist auch eine SPÖ-FPÖ-Regierung am Ende der Tage eine Alternative zur Ampel – dann allerdings mit einem Kanzler Doskozil.
Nehammer soll Partei und Regierung führen
„Freiheit, Verantwortung und Solidarität“ nannte Nehammer vor der Presse und der Kamera des ORF seine Ziele als geschäftsführender Bundesparteiobmann der ÖVP, zu dem ihn der Bundesvorstand seiner Partei einstimmig bestellte. Gleichzeitig gab er eine Reihe von Umbesetzungen im Regierungsteam der ÖVP bekannt, mit denen er zu Gesprächen mit dem Bundespräsidenten geht. Inzwischen steht fest, dass Van der Bellen Nehammer und die anderen am Nikolaustag angeloben wird.
Neuwahlen wären in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie das Selbstverständliche. Doch das gilt in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts in Österreich ebenso wenig wie in Deutschland und den meisten Ländern. Im kommenden Jahr stehen in Österreich turnusgemäß Gemeinderatswahlen im Burgenland sowie in Tirol an – und die Bundespräsidentenwahl. Das sind drei perfekte Stimmungstests: im Burgenland für das Gewicht von Doskozil und Ludwig in der SPÖ. In Tirol für die ÖVP und ihr Verhältnis zu den Grünen, die beide auch dort Koalitionspartner sind. Und bei der Wahl des Bundespräsidenten für die Stimmung im Lande, denn in Österreich wird der Bundespräsident vom Volk gewählt. Schon die Frage, wer antritt, wird spannend: der amtierende Van der Bellen allein oder mit welchem Gegenkandidaten.
Das laute Knirschen im Gebälk der ganzen Volkspartei sollte niemanden darüber hinwegtäuschen, dass das ganze österreichische Parteiengefüge wackelt. Österreich geht nach kurzer Kanzlerdämmerung in die Nacht – der helle Morgen ist weit weg.
Dass Sebastian Kurz bei der übernächsten Nationalratswahl nach zwei so gut wie jetzt schon sicheren Niederlagen der ÖVP – das wäre turnusmäßig 2029 – diese erneut aus der Opposition in eine Regierung führen könnte, halte ich ohne Weiteres für möglich. Nicht weil Kurz der Größte wäre, aber alle anderen bisher Sichtbaren in seiner Partei deutlich noch kleiner.
Die Ähnlichkeiten zwischen Österreich und Deutschland sind größer, als sie auf den ersten Blick scheinen. – Damit beschäftige ich mich in einem folgenden Beitrag.