Anfang April lynchte ein aufgebrachter Mob im westindischen Rajasthan den Milchbauern Pehlu Khan. Die virale Verbreitung in den sozialen Netzwerken verschaffte dem brutalen Akt nationale Prominenz. Übergriffe sogenannter „Kuhbeschützer“ gegen all jene, die in welcher Form auch immer kommerziell mit Rindvieh zu tun haben, gehören zum traurigen Alltag in Indien.
„Ein Lynchmord ist die Methode der Merheitsbevölkerung der Minderheit zu verstehen zu geben, dass das Gestz für sie kein Schutz bietet“, schreibt Aatish Taseer in einem Kommentar in The New York Times. Die Übergriffe gegen die Minderheit sind Taten von Einzelnen. Doch sie entfalten gewaltige gesellschaftspolitische Sprengkraft – und vergiften das innenpolitische Klima nachhaltig.
Muslime und Dalits spielen in Indiens boomender Fleisch-Industrie – das Land gilt international als führender Fleischexporteur – eine herausragende Rolle: Nicht nur beim Schlachten und Häuten der Tiere sind sie unentbehrlich, wichtig ist ihr Einsatz auch beim Transport des Viehs von einem Landesteil ins andere: auf den Landstraßen sind sie leichte Beute für gewaltbereite Kuh-Vigilanten (cow vigilantes), wie die Eiferer genannt werden.
Politischen Ausdruck findet die Volksbewegung in der Bharatiya Janata Partei oder BJP von Ministerpräsident Narendra Modi. Mit ihm als Galionsfigur will die Partei ihre Macht in der größten Demokratie der Welt auf Dauer sichern. Wiederholte Wahlerfolge in regionalen und lokalen Wahlen weisen darauf hin, dass der Plan durchaus eine Basis hat. Die Zielrichtung ist primär politisch, der Einsatz für die Kuh zeigt aber auch, dass Kultur und Religion wichtige Elemente der Langzeitstrategie sind.
Die Kritiker Modis, die in der englisch-sprachigen Presse mit ihren liberalen Kommentaren eine weltoffene intellektuelle Minderheit bedienen, sprechen von „majoritarianism“. Sie verurteilen ein System, in dem die Mehrheit die verbrieften Rechte der Minderheit übergeht: Fleischverbote seien nur ein – womöglich das symbolträchtigste – Exempel der Majorisierung. Tatsächlich hat die Partei Narendra Modis immer wieder bewiesen, dass für sie die Anliegen vor allem der Muslime allenfalls zweitrangig sind. Um Wahlen zu gewinnen, ist die Hindu-Partei nicht auf die Stimmen der religiösen Minderheit angewiesen. Nur vereinzelt erscheinen muslimische Kandidaten auf den BJP-Listen, in Regierungsämtern sind sie unterrepräsentiert.
In vielen Gesellschaften bestimmen kulturelle und religiöse Traditionen, was auf den Esstisch kommt und was dort nichts zu suchen hat. Vermutlich in keinem anderen Land der Welt ist die Speiseordnung derart politisiert wie in Indien.
Politiker im Priesterrock
Der Mord Pehlu Khans passierte wenige Tage, nachdem ein politisches Erdbeben Indien aufgerüttelt hatte: Bei den Landtagswahlen in Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat des Landes mit über 200 Millionen Bewohnern, errang die Modi-Partei einen Erdrutschsieg und beeilte sich sodann, einem radikalen Hindu-Priester die Regierungsverantwortung zu übertragen.
Das war eine alles andere als normale Personalie: Yogi Adityanath hatte zuvor mit anti-muslimischen Ausfällen nationale Prominenz erreicht. Für viele liberal gesinnte Inder, vor allem Angehörige religiöser Minderheiten, ist seine Beförderung eine Provokation. Der Politiker im Priestergewand zögerte nicht lange, seine umstrittene Programmatik in die Tat umzusetzen. Ein erstes Angriffsziel des Yogis war die Fleischindustrie des Bundesstaates: Medien berichten, 17 von 41 fleischverarbeitende Betriebe mussten in Folge amtlicher Eingriffe die Tore schließen, 30.000 Mitarbeiter verloren den Job.
Uttar Pradesh ist mit seinem Kreuzzug für die Kuh kein Einzelfall. In allen Bundesstaaten, in denen die BJP regiert, ist der Schutz der Kuh ein wichtiges Thema. Im Aktionismus gegen Fleischverzehr und die damit verbundene Industrie erlebe Indien einen „kompetitiven Fundamentalismus“, lamentieren The Times of India in einem Leitartikel. Raman Singh, der Ministerpräsident von Chattisgarh, drohte jedem, der eine Kuh tötet, mit dem Tod durch den Strang. Im Bundesland Gujarat, in dem Ministerpräsident Modi lange regierte und wo in diesem Jahr Landtagswahlen geplant sind, blieb es nicht bei verbalen Warnungen. Wer eine Kuh tötet, muss fortan mit lebenslanger Haftstrafe rechnen, so das Gesetz. Die Begründung für die drakonische Strafe lieferte Vijay Rupani, der Ministerpräsident des Teilstaates, gleich mit: „Der Schutz der Kuh ist das wichtigste Prinzip, um die ganze Welt vor moralischem und spirituellem Niedergang zu retten.“
Dr. Ronald Meinardus leitet das Regionalbüro Südasien der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit (FNF) in Neu Delhi. Zuvor verbrachte er viele Jahre im Nahen Osten, in Ostasien und Griechenland. Der gelernte Hörfunkredakteur nennt journalistisches Schreiben ein Hobby. Für ihn ist die Informierung interessierter Menschen in Deutschland über die Partnerländer auch Teil seines beruflichen Auftrags. Das gelte besonders für Indien, das in den deutschen Medien nicht die Beachtung finde, die ihm wegen seiner Größe, vor allem seines enormen Potentials zustehe.