Tichys Einblick
Israel gegen die Hezbollah im Libanon

Kommt der große Nahost-Krieg?

Sollte Israel, das die westlichen Werte seit 76 Jahren als einziges Land im Nahen Osten gegen viele Widerstände praktiziert, fallen, wäre das ein überdeutliches Signal für die muslimische Welt auch in Europa: der Westen mit seinen über Jahrhunderte erkämpften gesellschaftspolitischen Leistungen will oder kann sich nicht mehr verteidigen.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Susan Walsh

In der diplomatischen Küche zwischen Jerusalem und Washington brodelt es. Israels Benyamin Netanyahu sieht keine Alternative zu einem baldigen, umfassenden Angriff auf die Terror-Organisation Hezbollah im Libanon. Der Norden Israels ist praktisch unbewohnbar, 60 000 Bürger Israels können seit neun Monaten nicht nach Hause. Fast täglich schlagen Raketen ein, Häuser, Felder und Plantagen brennen immer wieder. Washington fürchtet eine Ausweitung und eine aktive Einmischung des Iran.

Israel beklagt seit der Bodenoffensive in Gaza 316 Tote und fast zweitausend Verletzte. Das ist nur ein Bruchteil der Opfer, die ein offener Krieg zu Lande, zu Wasser und aus der Luft gegen die Hisbullah auf dem Territorium des Libanon und in Israel verursachen würde, sagt zumindest der Großteil der militärischen und politischen Experten, die von 150 000 Raketen auf Israel gerichtet asugehen. Das ist mit ein Hauptgrund, warum sich der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant drei volle Tage in dieser Woche in Washington aufhieltund keinen der einflußreichen Gesprächspartner, angefangen von seinem Amtskollegen Lloyd Austin über Aussenminister Antony Blinken bis zu den Chefs der Geheimdienste und den entscheidenden Abgeordneten beider Parteien im Repräsentantenhaus und im Senat, ausgelassen hat.

Unter Freunden verhandelt man hinter verschlossenen Türen, weicht Gallant zuerst aus, verrät aber dann doch die Grundlinien der aktuellen Strategien vor der Presse. Israels renommierter Anti-Terror-Experte, Boaz Ganor, hat es in einem Satz überzeugend zusammengefasst: Hamas ist eine taktische Bedrohung, Hisbullah eine strategische und der Iran eine existenzielle Bedrohung.

Hamas ist laut Gallant bereits eine „Hülse ohne Muskeln“, sie muckt nur noch vereinzelt in Widerstandsnestern auf. Sie kann nicht mehr geordnet operieren und befindet sich auf dem Rückzug. Für den Tag danach in Gaza hat Gallant nur eine Negativ-Aussage: Nicht Hamas und auch nicht Israel werden in dem explosiven Streifen am Mittelmeer das Sagen haben.

Hezbollah und der Iran sind eine ernsthafte Gefahr für Israel, die ohne Hilfe aus den USA nicht abgewendet werden kann. Israel sucht eine diplomatische Lösung, ist aber für einen Krieg, den ganz großen Krieg, vorbereitet, so Gallant.
Die große kriegerische Auseinandersetzung wollen die USA verhindern und spielen auf allen Tasten des diplomatischen Klaviers auch gegenüber ihrem engsten Verbündeten Israel. Der Waffennachschub wird taktisch verzögert, während ein 14-Milliarden-US-Dollar-Hilfspaket geschnürt und verabschiedet ist. Damit signalisieren die USA auch dem Iran, dass das von vielen Verbündeten vor allem in Europa verlassene Israel, nicht alleine dasteht.

Niemand weiss es besser als die Experten in Washington, dass ein Naher Osten ohne Israel nicht nur der Verlust eines kleinen Landes mit knapp zehn Millionen Einwohnern wäre. Es geht um nicht weniger als um die Auseinandersetzung zwischen zwei Zivilisationen, es geht um zwei Kulturen, um Kalifat oder Demokratie, um Sharia oder das westliche Rechtssystem mit der damit verbundenen individuellen Freiheit und der Gleichstellungen von Mann und Frau vor dem Gesetz in einer offenen Gesellschaft.

Sollte Israel, das diese Werte seit 76 Jahren als einziges Land im Nahen Osten gegen viele Widerstände praktiziert, fallen, wäre das ein überdeutliches Signal für die muslimische Welt auch in Europa: der Westen mit seinen über Jahrhunderte erkämpften gesellschaftspolitischen Leistungen will oder kann sich nicht mehr verteidigen.

Genau das versucht Yoav Gallant in drei 18-stündigen Verhandlungstagen in praktische Hilfe aus den USA umzusetzen. Sein wichtigstes Argument: Israel benötigt keinen einzigen ausländischen Soldaten. Gebt uns die notwendigen Waffen und Ausrüstungen: „we will do the job“, wir verteidigen uns selbst.
Die Rede ist von der hardware für die Luftabwehr, sprich Raketen für Iron Dome und die Arrow-Systeme, sowie Bomben zum Knacken der unterirdischen Zentralen der Terror-Organisationen in Gaza und im Libanon. Das Problem nicht nur der Waffenlieferanten sind die zahlreichen zivilen Opfer, die bei aller Präzision der militärischen Angriffe unvermeidlich sind. Deshalb sucht die Politik fast verweifelt nach einer Lösung am Verhandlungstisch, den die arabisch-muslimische Terrorszene und ihre Anführer, die im sicheren Katar und in Beirut sitzen, noch immer meidet. Der Druck zum Verhandeln kann aber nur militärisch erzwungen werden, heisst es einmütig in der sonst ziemlich zerstrittenen Führung Israels.

Der Druck der politisch-medialen Welt auf Israel ausgehend von den Universitäten Kaliforniens bis Berlin und von den Regierungen der EU wird immer stärker, je länger der Krieg – inzwischen im zehnten Monat – anhält. Jerusalem versucht mit mehr Lebensmitten und Trinkwasser für die Bevölkerung Gazas entgegenzusteuern. Hamas und ihre Komplizen unterfüttern mit einschlägigen Bildern aus den Kriegsschauplätzen das Zerrbild Israels eines Besatzers und Apartheid-Staates. Nicht ganz ohne Erfolg. Eine Ende ist nicht absehbar.

Schon gar nicht mit Benyamin Netanyahu als Regierungschef, dessen Name im Ausland nicht nur wegen seiner Korruptions-Anklage verbrannt ist. Lokal klagen ihn die Angehörigen der nach Gaza Verschleppten seit fast zehn Monaten an, weil er keinen Deal zur Freilassung zustandebringt. Ablenkung bringt ihm ausgerechnet ein aktuelles Urteil des Obersten Gerichts, das er in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 zu entmachten versuchte: 3000 Neu-Soldaten aus der orthodoxen Gesellschaft müssen zum Wehrdienst eingezogen werden. Das verlangt die soziale Gerechtigkeit.

Zumindest die Wirtschaft hat den Glauben an eine glorreiche Zukunft Israels nicht verloren: der IT-Konzern Google hat gerade 20 Stockwerke in einem 77stöckigen Wolkenkratzer in Tel Aviv angemietet. Fertigstellung 2026. Mietpreis pro Jahr: rund 40 Millionen US-Dollar.

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