Das ist die Geschichte zweier Städte. Beide beherrschten das Mittelalter; über beiden ragen gewaltige gotische Gotteshäuser in den Himmel. Beide waren die Heimat mächtiger Erzbischöfe und selbstbewusster Bürgerschaften, galten als wichtige Pilgerorte und gehörten bedeutenden Städtebünden an. Die eine Stadt war bis in die Frühe Neuzeit die größte Stadt des alten Reiches; die andere Stadt ist bis heute die größte Norditaliens. Köln und Mailand liegen auf jener abendländischen Achse, die das eigentliche Herz Europas bildet.
Am Anfang schweigen die Medien
Als wir beim Neujahrsessen saßen – rund hundert Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt – sprach niemand von außergewöhnlichen Vorkommnissen in der Silvesternacht. Weder im Restaurant noch in den Medien. Brescia verhält sich ein Stück weit zu Mailand wie Bonn zu Köln: Es gehört zum selben Kulturkreis und man weiß üblicherweise, was in der großen Schwesterstadt passiert. In den Folgetagen mehrten sich Gerüchte, es kursierten Videos im Internet. So wie damals in Bonn schnell klar wurde, was auf der Kölner Domplatte passiert war, schwappten die Informationen vom Mailänder Domplatz an das Ufer des Gardasees. Auch das: eine Parallele zu damals.
Reaktionen waren in den großen Medien vorerst Mangelware. Demnach war es in der außerlombardischen Provinz nicht so einfach einzukreisen, was in der Nacht von Silvester auf Neujahr im Zentrum der zweitgrößten Stadt Italiens tatsächlich passiert war. Mit Ausnahme alternativer Medien und Blogs, sowie der Mailänder Tageszeitung Il Giorno – die allerdings in den letzten Jahren an Reichweite deutlich eingebüßt hat –, konnte man in der überregionalen bzw. nationalen Presse nur wenig erfahren. Sprachen wir von weiteren Parallelen zu Köln?
Sexuelle Gewalt, Raub und schwere Körperverletzung an Silvester
Erst im Verlauf der ersten Januarwoche, spätestens am 5. Januar, ging ein Aufschrei durch das Land. Mit einem Schlag berichteten plötzlich Corriere della Sera, Repubblica und Messagero von der Mailänder Silvesternacht und den Übergriffen. Ein Video wurde zum Anlass, das Chaos und die sexuellen Avancen vornehmlich nordafrikanischer Einwanderer zu thematisieren. Im Zentrum eine junge Frau, die von einer Gruppe „junger Männer“ umringt und belästigt wird. Es sind etwa 30 Ausländer, die sie umzingeln, stoßen, befummeln, masturbieren und ihren Pullover zerreißen. Polizisten, mit Schilden bewaffnet, müssen eingreifen. Die Hose der 19-Jährigen ist heruntergezogen, ihr Körper mit blauen Flecken überzogen. Die Behörden publizieren das Video, im Bestreben, die Identität der Täter aufzuklären. Taharrusch unter der Madonnina des Mailänder Domes.
„Ich kann immer noch nicht schlafen“
Erst die Anzeige der 19-Jährigen ermutigt auch andere Frauen, über die Ereignisse zu sprechen. Immer mehr Vorfälle werden bekannt. Der Platz ist videoüberwacht, die Aufnahmen Dutzender Kameras werden noch ausgewertet. Allein am 11. Januar durchsucht und vernimmt die Polizei 18 junge Männer zwischen Mailand und Turin, es gibt zwei Festnahmen. Einige haben die italienische Staatsbürgerschaft, die meisten sind maghrebinischer bzw. ägyptischer Herkunft. Zwölf gelten als tatverdächtig. Ihnen wird sexuelle Gewalt, Raub und schwere Körperverletzung vorgeworfen.
Die Ermittler sind immer noch dabei, weitere Opfer ausfindig zu machen, die sich noch nicht gemeldet haben. Um sicher zu sein, wer die Gewalttäter sind, gibt es Abgleiche zwischen den Zeugenaussagen der umzingelten, ausgeraubten und belästigten Mädchen. Die beiden deutschen Studentinnen haben allerdings auch schwere Vorwürfe gegen Polizisten der Mailänder Silvesternacht erhoben. „Die Polizei hat uns gesehen und nichts unternommen. Ich weiß nicht warum, aber es war schockierend, denn sie können uns nicht übersehen haben.“
Der Bürgermeister bittet um „Entschuldigung“
Man könnte weitere Details nennen. An Absperrungen gedrängt, schreien junge Frauen um ihr Leben. Ein Angriff auf eine Gruppe aus fünf Personen, bei der einer das Handy geraubt wird, um sie zuerst abzulenken, dann zu umzingeln und anschließend zu begrapschen. Die Zeugnisse einzelner Frauen erscheinen als Titelschlagzeilen in die Zeitungen. Es gibt Telefoninterviews in Talkshows.
Nacht über den einst stolzen Domstädten des Abendlands
Womit wir bei der letzten Parallele sind. Die Wirtschaftsmetropole Mailand hatte zu Beginn der 1990er ihre linke Elite abgewählt. Mit Marco Formentini regierte hier von 1993 bis 1997 ein Bürgermeister der Lega. Die Nachfolgeregierungen galten als bürgerlich. Seit den 2010ern hat sich das Blatt gewendet. Mailand folgte wieder einer progressiveren Linie. Das galt für Giuliano Pisapia wie für seinen Nachfolger Scala, die zwar als unabhängige Kandidaten antraten, doch ihre parteipolitische Unterstützung bei den linken Listen fanden. Letztes Jahr ist Scala dann doch einer Partei beigetreten. Es handelt sich um die Grünen.
Keine Frage, mit welchen Parallelen Mailand in Zukunft kämpfen darf, die Köln bereits erlebt hat. Die Nacht legt sich über die einst so stolzen Domstädte des Abendlandes, nicht nur zu Silvester.