Um das häufigste Missverständnis sofort auszuräumen: Nicht der Ukraine-Krieg, sondern der Rückzug aus Afghanistan ist die Zeitenwende der jüngsten Geschehnisse, die erst die Weltpolitik ins Rollen gebracht hat. Der Westen hat seine ganze Verletzlichkeit gezeigt und damit wie eine blutende Robbe die Raubfische im Wasser angelockt. Die Ukraine ist davon nur eines von mehreren Kapiteln. Wer die weltwirtschaftlichen Veränderungen der letzten Wochen nicht aus dem Auge verliert, sieht, dass den Globus ein sich anbahnender Wirtschaftskrieg vermutlich länger in Atem halten wird als die Territorialkonflikte in der Ukraine. Wir müssten heute nicht über Katar reden, wäre die westliche Außenpolitik seit 2001 nicht ein einziges Fiasko gewesen, die nun ihre Quittung erhält.
Nicht Russland, die Taliban gaben die Inizialzündung zur jetzigen Krise
Zur Erinnerung: Afghanistan ist nicht spontan und kein Zufall gewesen. Die Chinesen hatten ihre Schachfiguren schon vorher in Stellung gebracht, etwa durch diplomatische Kontaktaufnahme zu den Taliban. Anders der Westen, dessen jüngste außenpolitische Beispiele Bände sprechen. Die US-Außenpolitik hatte auch die Bundesrepublik keinen „Plan B“ im Fall der Sanktionsdurchsetzung – zumindest keinen, der länger abgesprochen war. Dass die Biden-Administration es sich mit den Saudis verscherzt hatte und man eine üble Watsche aus Riad bekam, zeigt, wie sehr sich die westlichen Regierungen in ihrem Handeln ähneln.
Der Spott über die „Moralische Wende“ bei den Grünen ist die eine Seite. Doch ganz abgesehen von dem zweierlei Maß und der aus dem Kosovo-Krieg bekannten Neigung zu ideologischen 180-Grad-Wenden, sollte jene Frage im Vordergrund stehen, ohne die es gar keine Prämissen in der Außenpolitik geben kann: Was sind Deutschlands Interessen? Soll es aus der Sicht Berlins tatsächlich besser sein, wenn die Energie-Euros nun nicht mehr den Ukraine-Krieg unterstützen, sondern den internationalen Terror?
Ex-Außenminister Gabriel kungelte mit Katar
Vor unseren Augen läuft bereits die Reinwaschung Katars ab. Dieselben Medien, die monatelang alle möglichen Dinge an diesem Nahostland bekrittelten, die dort landläufig gang und gäbe sind, werden in Zukunft ganz andere Töne anstimmen. Einen Vorgeschmack darauf liefert bereits Ex-Außenminister Gabriel. Der twitterte heute: „Am dümmsten war der Vergleich mit Russland. Qatar bedroht niemanden, finanziert keine Terrororganisationen, sondern beherbergt auf Wunsch der USA (!) die Hamas und die Taliban, um in Doha mit ihnen verhandeln zu können. Qatar ist schlicht ein verlässlicher Partner des Westens.“
Während die Präsenz der Golfstaaten in Deutschland fast nur immer dann thematisiert wird, wenn ein reicher Scheich sich neuerlich einen Fußballclub gekauft hat, ist die Gesamtlage deutlich komplexer. Katar verfügt über knapp 10 Prozent Anteile an der Deutschen Bank und damit mehr als jeder andere Investor. Die FAZ hat dazu vor drei Jahren einen Mitarbeiter wiedergegeben: „Das sind die wahren Chefs im Konzern.“ Zugleich besitzt Katar Anteile am VW-Konzern. Dass diese arabische Connection den Niedersachsen Gabriel auf einen einflussreichen Posten bei der Deutschen Bank gehievt hat, ist für den Spiegel ausgemachte Sache. Die zwingende Frage: Wer ist eigentlich Ross, wer Reiter, in den Gesprächen mit Katar?
Will Deutschland tatsächlich die Destabilisierung seines Vorhofs mitfinanzieren?
Mancher Öko-Lobbyist wird derweil davon träumen, so manches Kooperationsprojekt zu starten, für das es Projektzuschüsse und Fördergelder aus dem Steuerzahlertopf regnet. Aber keine Sorge: Die „Energiewende“ wird vor allem durch Konferenzen, Vorträge und Symbolprojekte exportiert, die richtigen Geschäfte machen dann wie üblich die echten Händler aus Fernost.
Dass Katar keine Terroristen unterstützen würde, ist dabei mehr als nur eine dreiste Form von Fake News. Nicht nur in Afghanistan, wo die Taliban dem Westen eine historische Niederlage beigebracht haben, sondern auch in Syrien sind die Finanziers unterwegs. Wieder einmal könnte man die Menschenrechte anführen; doch noch mehr sollte Deutschland interessieren, ob es die von radikalen Islamisten entzündeten Brandherde vor seiner Haustüre wie Syrien und Libyen dauerhaft anstacheln möchte, inklusive der damit einhergehenden Instabilität im Nahen Osten. Dass sich Islamisten in den Krisenherden Balkan und Ukraine herumtreiben, festsetzen und nach Westeuropa reisen, ist ebenso besorgniserregend. Im Jemen finanzierte Katar, das laut Gabriel keine Islamisten finanziert, die Muslimbrüder.
Von der Hamas brauchen wir gar nicht zu reden – historische Verantwortung für Israel? Was ist Israel schon wert, wenn dafür die deutsche Seele an utopischer Träumerei verliert? Hatte insbesondere unter der Amtszeit von Heiko Maas das deutsch-israelische Verhältnis Schaden genommen, etwa, weil man die eigene Liebe zum palästinensischen FLüchtlingshilfswerk UNRWA und dem Iran-Deal pflegte, so könnte die aktuelle Bundesregierung diese Linie fortsetzen. Annalena Baerbock, eine bekannte Israelfreundin, wird es jedenfalls schwer in Tel Aviv haben, die deutsche Energiepolitik mit der eigenen „Israel first“-Prämisse zu vereinbaren.
Böse Zungen könnten behaupten, dass wir ein ideologisches „roll back“ erleben. Im Kampf gegen Russland ist alles erlaubt. Das erinnert frappierend an die fatale Unterstützung der Islamisten im Kalten Krieg durch die USA – namentlich in Afghanistan (Operation Cyclone). Bereits im Syrienkrieg zeigte sich das absurde Bild, dass der Westen mit der Unterstützung der Opposition de facto die mehrheitlich islamistischen Gruppen unterstützte, die bis heute den Großteil der Anti-Assad-Allianz ausmachen. Offenbar gilt die Taktik, dass der Feind eines Feindes ein Freund sei, nicht nur für Stammesgesellschaften.
Rettet die Menschenrechte, baut Atomkraftwerke
Was die Grünen und die Fundamentalisten eint, ist die Vorstellung eines Tabus. „Haram“ ist für Habeck und seine Partei vor allem eines: die Kernkraft. Die Verhinderung der Kernkraft scheint die Prämisse sämtlicher grünen Politik zu sein. Lieber ist man bereit, im Zweifel Material an potenzielle Verbündete von Terroristen zu liefern, als die Ideologie zu opfern. Deutsches Geld könnte bald auch in den Krieg in Syrien und Jemen fließen. Zynisch gesagt: Der theoretische Tod durch Braunkohle wirkt verantwortungsloser als der faktische Tod bei Anschlägen.
Dagegen ist das kalte Festhalten an der Staatsraison, die die Energiepolitik der Sicherheitspolitik unterordnet, nahezu menschenfreundlich. Wir hören jetzt: Kernkraftwerke länger laufen zu lassen, wieder in Betrieb zu nehmen oder neu zu bauen, dauere zu lange. Mag sein. Aber nach zehn Jahren Energiewende fragt man sich dann doch, wie viele Jahre wir auf dieses geopolitisch wie energiepolitisch verhängnisvolle Wolkenkuckucksheim noch verschwendet werden sollen, bis der deutsche Wähler die Grünen nach Hause schickt. Die Befürchtung besteht, dass der Beharrungseifer der Ideologen größer ist als jedes sich anbahnende Unglück. Was bleibt, ist die böse Provokation ins grüne Schneeflöckchenherz: Rettet die Menschenrechte, baut Atomkraftwerke.