Es ist wahr, Justin Trudeau hat seinen Rücktritt angekündigt, oder er hat die Information darüber mit seinem Auditorium „geteilt“, wie es umgangssprachlich heißt. Aber zugleich hat Trudeau eine wichtige Bedingung für diesen geplanten Rücktritt auf Raten gestellt, als ob er noch im Abgang um das eigene Vermächtnis verhandelte: Zunächst soll seine „Liberale Partei“ beschließen, wie sie einen Nachfolger bestimmen will. Erst danach will Trudeau schrittweise den Parteivorsitz und das Amt des Regierungschefs niederlegen. Der seit Wochen waidwunde Premier hat seinen Jägern ein Stück der Beute hingeworfen, doch zugleich konstruiert er einen pompösen Übergangsprozess, der nur um seine Partei kreist, die einst schon sein Vater geführt hatte.
Besonders klar macht Trudeau seine autoritären Begehrlichkeiten bis in den Untergang mit einer von ihm erbetenen Aufhebung oder Vertagung (prorogation) des Parlaments, das nun – anders als eigentlich vorgesehen – nicht schon am 27. Januar zusammentreten soll, sondern erst am 24. März. Dem gab die Generalgouverneurin Mary Simon statt. Die Ex-Diplomatin Simon vertritt den kanadischen Monarchen, also den britischen König, und hat insofern die nicht einflusslose Rolle einer Zeremonienmeisterin inne. Und in diesem Fall war sie Trudeau zu willen, ohne dass dafür ernsthafte Gründe erkennbar wären.
Damit befindet sich auch Kanadas Regierungssystem im festen Griff einer Partei, die eigentlich nur eine dienende Rolle spielen sollte. Um der Liberalen Partei einen sanften Übergang von Trudeau zu einem anderem Chef zu ermöglichen, müssen sich die gewählten Vertreter des Volkes noch mindestens zwei Monate gedulden, in der erst einmal gar nichts passiert.
Und das ist natürlich ungemein praktisch für Trudeau, dem unbequeme Fragen in dieser Lage nur wehtun können. Keine Debatten, keine Fragestunden, keine Abstimmungen – das ist schon besser, und auch irgendwie kommunistischer. Seine Vorliebe für diese Staatsform hatte Trudeau ja schon öfter zum Ausdruck gebracht, nicht nur, als er zum Tode Fidel Castros so ausführlich kondolierte, sondern auch als die KP Chinas den Chinesen entweder die Elektromobilität oder auch einen Lockdown verordnete.
Trudeaus zäher Abschied: Erst die Partei, dann das Land
Vor allem bedeutet die Prorogation: Es wird auch in Kanada nicht zu einem spontanen Misstrauensvotum gegen Trudeau kommen. Genauso wie im deutschen Bundestag, wo solche Abstimmungen mittlerweile von langer Hand geplant werden, unter Einbeziehung der größten Oppositionspartei. Aber das ist zumindest in Kanada noch nicht der Fall: Die Konservativen und Pierre Poilievre machen sich mit Trudeaus Planungen nicht gemein.
Konkret brachte Trudeau einen „caucus“, also eine Vorwahl ins Gespräch, die offenbar seiner Meinung nach den normalen Parteiprozess ersetzen soll. Andere sind gegen solch eine Neuerung. In der Tat bringt eine solche Entscheidungsmethode nicht immer Glück, wenn sie nicht fest in einem Land verwurzelt ist. Das konnte auch die deutsche SPD erleben, als Rudolf Scharping aus einer ähnlichen (dabei immer noch parteiinternen) „Urwahl“ hervorging und Schröder als Kompromisskandidat zwischen linkem und rechtem Flügel schlug.
Was Trudeau bei seiner Vorwahl-Idee vorschwebt, könnte sich erklären, wenn man auf die Voraussetzungen der Registrierung als Partei-Unterstützer bei den Liberalen blickt. Es können sich nicht nur Jugendliche ab 14 Jahren registrieren lassen und dann über den kommenden Premierminister abstimmen, sondern auch Personen ohne kanadische Staatsangehörigkeit. Das stünde allerdings in der besten Tradition von Trudeaus zäh-neunjähriger Amtszeit: Identitätsgruppen über alles. Diese Vorwahlen hätten insofern das Potential, dem großen Land im Norden ein vergiftetes Abschiedsgeschenk mitzugeben. Hier noch einmal Trudeaus wachsweiche Ansprache: Interessant wird es erst etwa ab Minute 3:00.
Trudeau: Für Mittelschicht gekämpft – Poilievre: Justinflation
Das Beste bleibt wohl Trudeaus Satz: „Die Kanadier verdienen eine echte Wahlmöglichkeit bei den nächsten Wahlen.“ Er verrät einiges über das Selbstbild des Sprechers. Trudeau sieht sich als schwach an, zu schwach, um den kanadischen Liberalen – die man besser „die Roten“ nennen würde – eine Chance bei den kommenden Wahlen zu bieten. Er hofft, dass an seiner Stelle ein halbwegs respektabler Kandidat gefunden wird. Aber er macht nicht unmittelbar Platz für einen neuen Parteichef und Premierminister. Er lässt auch kein Misstrauensvotum zu. Trudeau hat den demokratischen Prozess einmal mehr gekapert – so wie, mit anderen Argumenten, in der Corona-Zeit. Das scheint seine Spezialität zu sein, eines der Markenzeichen, durch das er in Erinnerung bleiben wird.
Und dann sagte Trudeau noch, dass er 2015 gewählt worden sei, um „für die Mittelschicht zu kämpfen“, und genau das habe er auch getan. Das war allerdings der Witz des Tages. Denn wer sich heute verraten fühlt, das ist sicher auch die kanadische Mittelschicht, die sich Supermarktpreise nicht mehr leisten kann.
Der Herausforderer Poilievre, dessen Konservative Partei in Umfragen seit langem stabil bei 40 Prozent und höher liegt, hat von „Justin-flation“ gesprochen oder auch schon mal gesagt, dass Trudeau „seinen Preis nicht wert“ sei. Nun glaubt er, dass wer immer auf Trudeau folgen wird, ihm gleichen wird. Denn schließlich hätten ja alle bekannten Kandidaten für die Trudeau-Nachfolge den bisherigen Kurs unterstützt.
Im kanadischen Mehrheitswahlrecht („first-past-the-post“ wie in Großbritannien, also ohne Stichwahl) könnte der Vorsprung der Konservativen vielleicht sogar eine absolute Mehrheit ergeben. Aber Kanada hat auch eine lange Erfahrung mit Minderheitsregierungen, die sich ihre Mehrheiten Fall für Fall suchen.
Musk: Mädchen, du bist nicht mehr der Gouverneur
In einem langen Gespräch mit Jordan Peterson sagte Poilievre auch, dass ein Großteil seiner Unterstützung von jungen Menschen kommt, die über die aktuelle Preisentwicklung – auch bei Immobilien – frustriert sind. Wohneigentum für viele junge Kanadier sei damit unerreichbar geworden. Und das, während junge Frauen „ihre biologische Uhr ticken hören“. Übrigens ist Poilievre sehr wohl offen für Einwanderung – aber die Zuwanderer sollen ihre „Probleme“ vor der Tür lassen. Stattdessen erwartet er, dass alle Kanadier einen „gemeinsamen Sinn für Werte und Identität“ annehmen.
Dem Vorschlag eines Beitritts zu den USA, den Donald Trump und Elon Musk immer wieder teils provokativ machen, setzt Poilievre eine Botschaft der Stärke entgegen: Sein „Canada first“ erinnert dabei durchaus an Äußerungen von Trump.
Weiter geht diese Debatte um einen Beitritt Kanadas zu den USA auch auf X. Elon Musk hat Trudeau nun gesagt, dass sein Wort in dieser Sache nicht mehr sehr bedeutend sei. Schließlich sei er nicht mehr der „Gouverneur Kanadas“. Das wird man eher unter Humor einsortieren denn als ernsthafte Drohung. Es hat allerdings Trump-Stil. Oder hat doch eher dieser Trump-Vorschlag Musk-Stil? Von wem der beiden welche Idee stammt, wird langsam von außen undurchsichtig.
Doch auch die außerparlamentarische Opposition – etwas bei Rebel News, die sich zu Corona-Zeiten einen Namen machten – bleibt nicht unbewegt. Eine Petition für umgehende Neuwahlen ist auf dem Weg. Man will sich das monatelange Schauspiel einer Trudeau-Partei in Agonie nicht gefallen lassen. Fraglich bleibt ohnehin, ob der Caucus den Rot-Liberalen Stimmen zuwehen würde. Dennoch ist die Prorogation des Unterhauses und die Verzögerung der Neuwahlen kein gutes Zeichen für die Vitalität der Demokratie in Kanada.