Tichys Einblick
Zwangssterilisationen,erzwungene Abtreibungen

Kanada und Dänemark: bis in die Gegenwart brutale Verbrechen an Frauen der Urbevölkerung

Die dänische Regierung nutzte in Grönland noch lange nach dem Krieg eugenische Praktiken. Betroffen waren vor allem Indigene, die man „danifizieren“, europäisieren wollte. In Kanada scheint eine ähnliche Praxis in Bezug auf die First Nations bis heute anzudauern.

Ontarios Senatorin Yvonne Boyer bei einer Pressekonferenz zum Bericht über Zwangssterilisationen, 14.07.2022

IMAGO / ZUMA Press

Von der tiefen Kluft zwischen zwei Bevölkerungsgruppen, die auf demselben Territorium siedeln, zeugen zwei Geschichten, die sich in Kanada und Grönland um 1970 abspielten. Fast könnte man davon sprechen, dass die Vermutungen der Flower-Power-Generation von tiefsitzenden „faschistischen“ Tendenzen in der eigenen westlichen Gesellschaftsform berechtigt waren. Allerdings waren es anscheinend nicht Deutschland oder die USA, die zu jener Zeit immer noch den eugenischen Experimenten der Zwanzigerjahre verhaftet waren, sondern ihre nördlichen Nachbarn, etwa Schweden oder Kanada.

Ziemlich unverständlich erscheint auf den ersten Blick eine Entscheidung der dänischen Regierung irgendwann um das Jahr 1966, die Geburtenkontrolle der Grönländer in die eigene Hand zu nehmen und quasi staatlich zu organisieren. Eine bessere Gesundheitsversorgung hatte die zuvor grassierende Tuberkulose zurückgedrängt und nach dem Weltkrieg zu deutlichem Bevölkerungswachstum geführt. Auch Dänen kamen nun in größerer Zahl in die einstige Kolonie, die 1953 zur Provinz geworden war. Bis 1970 sollte sich die Bevölkerung der Insel verdoppeln. Zugleich wurde das Land „modernisiert“, was vor allem Landflucht und Verstädterung bedeutete und gesellschaftliche Probleme mit sich brachte.

Mit der Spirale gegen Mehrkosten?

Es gehört sicher in diese Krisenstimmung zwischen einem sich ausbreitenden Alkoholismus und anderen sozialen Problemen, dass man beschloss, es müsse etwas mit der Geburtenrate der Grönländer geschehen. Parallel war man bemüht, die Grönländer zu „danifizieren“, also zu guten dänischen Staatsbürgern zu machen, wozu viele Kinder zeitweise nach Dänemark in Internate und Pflegefamilien geschickt wurden.

Das hohe Bevölkerungswachstum bedeutete dabei vor allem Mehrkosten für den dänischen Staat, wie Linda Koponen in ihrem Bericht für die NZZ zusammenfasst. Die logische Schlussfolgerung schien zu sein, das selbst durch bessere Gesundheitsvorsorge herbeigeführte Bevölkerungswachstum wieder zu bremsen. Dabei „half“ wiederum die moderne Technik: 1965 erhielt der österreich-ungarische, später US-amerikanische Gynäkologe Lazar C. Margulies ein Patent für die sogenannte Spirale. Intra-Uterin-Pessare anderer Art hatte es seit der Jahrhundertwende gegeben.

Das in Spiralenform neu designte Pessar setzte man massenhaft jungen Grönländerinnen ein. Was die Anweisung und ihre Durchführung an individuellem Leid und teilweise körperlichen Schmerzen hervorgerufen hat, kann man allenfalls ahnen. Zwischen 1966 und 1975 wurden 4.500 Spiralen auf Grönland eingesetzt, wie die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt DR (Danmarks Radio) in einem Podcast über „Die Spiralenkampagne“ aufdeckte. Oft geschah das gegen den Willen der Frauen oder Mädchen.

Selbstbestimmung über den eigenen Körper missachtet

Von so einem Erlebnis berichtete die heute 62 Jahre alte Naja Lyberth vor wenigen Jahren in einem Online-Post. Mit ihm fing alles an. Lyberth berichtete, wie man ihr mit 14 Jahren eine Spirale eingesetzt hatte – ohne ihre Zustimmung, dafür mit einem stechenden Schmerz, der Lyberth die letzten knapp 50 Jahre verfolgt hat.

Im Mai letzten Jahres wurde eine offizielle Untersuchung von der dänischen und grönländischen Regierung in Auftrag gegeben, die noch nicht abgeschlossen ist. Daneben klagen 143 Frauen und fordern eine Entschädigung von 43 Millionen Kronen (etwa 5,8 Millionen Euro) von Dänemark. Daneben erhoffen sie sich eine Entschuldigung des dänischen Staates für das ihnen angetane Leid.

War nun der dänische Staat schuld oder die lokalen grönländischen Behörden? Was war die Rolle der Familien? Und waren am Ende einige der Sterilisierungen einvernehmlich? All das werden Richter und Parlamentarier zu klären haben. Aber schon heute ist klar: In tausenden Fällen wurde die Selbstbestimmung über den eigenen Körper missachtet, wenn schon 14-Jährigen ein Mittel zur Empfängnisverhütung eingesetzt wurde, das zudem nicht selten zu schweren Entzündungen führte. Wie absurd es ist, Mädchen, die wie Naja Lyberth noch nie Geschlechtsverkehr hatten, ein spiralförmiges Pessar zur Empfängnisverhütung einzusetzen, liegt auf der Hand.

Das Etikett der „Geistesgestörten“

Es war nicht anders – eher schlimmer – bei den indigenen Völkern Kanadas. Auch dort gab es offenbar eine intensive Sorge der Gesundheitsbehörden um eine drohende Überbevölkerung, ohne Zweifel auch hier angeregt durch die bessere medizinische Versorgung.

Hier waren das Mittel der Wahl allerdings erzwungene Abtreibungen und Sterilisierungen, die zum Beispiel bei alleinerziehenden Müttern vorkamen, denen man absprach, für noch ein Kind sorgen zu können. Schon seit den Zwanzigerjahren hatte die kanadische Regierung durch Sterilisierungsgesetze eine „eugenische“ Praxis eingeführt. Das Programm wurde bis 1972 fortgesetzt – auf versteckte Weise aber wohl noch länger, bis in die Gegenwart.

Anfangs war die Einwilligung der Patienten oder ihres rechtlichen Vertreters nötig, 1937 wurden Sterilisierungen an geistig Behinderten auch ohne das Kriterium möglich. Noch lange wurde dieses Etikett der „Geistesgestörten“ auf viele Frauen und Mädchen angewandt, bei denen es nichts zu suchen hatte: Minderjährigen etwa oder bei Abkommen der First Nations. Am offiziellen Ende der Praxis machten Ureinwohner und Métis ein Viertel der durchgeführten Sterilisierungen aus.

Unrecht an Frauen, die Kinder wollten

Ende der Siebzigerjahre wurde so auch Liz vom Volk der Anishinabe zu einer Abtreibung und Sterilisierung gedrängt, wie Kristy Kirkup für den öffentlichen Sender CBC berichtet. Liz, die ihren Nachnamen für sich behält, wurde demnach von ihrem Sozialarbeiter geradezu „in die Enge getrieben“. Laut der Senatorin für Ontario, Yvonne Boyer, selbst Métis von Herkunft, haben ähnliche Maßnahmen in allen Provinzen stattgefunden, „wo immer es einen erheblichen Bevölkerungsanteil indigener Frauen gab“. Boyer setzt sich für eine Senatsuntersuchung ein, um das Ausmaß der Vorgänge im nationalen Rahmen zu beleuchten. Der Senat berät bereits über einen Gesetzesentwurf (Bill S-250), der Zwangssterilisierungen grundsätzlich strafbar machen würde.

Inzwischen haben 60 Frauen aus der Region von Saskatoon eine Klage um je sieben Millionen Dollar eingereicht. Einige von ihnen wurden anscheinend auf dem Operationstisch oder noch während der Wehen zum Unterschreiben einer Einwilligung gedrängt, dann wohl zur Sterilisierung unmittelbar nach der Geburt. Damit ist fürchterliches, unbeschreibliches Unrecht geschehen an Frauen, die Kinder haben wollten, das aber nach Ansicht des Staates nicht sollten.

Laut Boyer geschieht das aber weiterhin. Seit den Siebzigerjahren seien mindestens 12.000 Frauen gegen ihren Willen sterilisiert worden, viele angeblich noch vor dem ersten Kind, weil Sozialarbeiter und Mediziner so entschieden. Noch 2019 wurde eine Inuit nachweislich gegen ihren Willen sterilisiert. Doch der Arzt verlor seine Lizenz nur für die kurze Dauer von fünf Monaten. Ein Jahr zuvor hatte der UN-Menschenrechtsbeobachter eine Untersuchung der Vorwürfe gefordert. In der Völkerrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1948 werden auch Maßnahmen zur Geburtenkontrolle beschrieben.

Auch im „Volksheim“ Schweden gang und gäbe

Auch in Schweden wurden zwischen 1935 und 1976 ungefähr 62.000 Personen, wiederum meist Frauen, zwangssterilisiert. Auch hier beruhte die vorgenommene Selektion auf angeblich eugenischen Prinzipien: Arme und Lernschwache sollten an der Fortpflanzung gehindert werden. Aber auch die Angaben „Alkoholismus“, „Mischling“ oder auch „religiös verwirrt“ reichten als Indikation. Natürlich wurde gerade Schweden in jener Zeit praktisch durchgängig von Sozialdemokraten regiert (nicht viel anders sah es in Dänemark aus). Sie hatten ein festgefügtes „Volksheim“ rund um Staat und Bürger gebaut, in dem angeblich für alle gesorgt sein sollte, von der Wiege bis zur Bahre. Das sich ergebende Kalkül war insofern logisch: „Künftige Sozialausgaben sollten schon im Vorfeld verhindert werden“, so Ernstwalter Clees in seinem Beitrag im Deutschen Ärzteblatt.

In Deutschland kämpfte „der SPD-Reichstagsabgeordnete Alfred Grotjahn bis zu seinem Tod (1931) für die zwangsweise Sterilisation und Heimeinweisung von ‚Lumpenproletariern und Asozialen‘“. Auch die Sowjetunion verfolgte „rassenbiologische Ziele“. In Dänemark gab es schon seit 1929 ein Gesetz zur Zwangssterilisierung, vier Jahre vor dem Deutschen Reich. Die Praxis galt bis 1967. 10.000 Dänen wurden sterilisiert. In Deutschland waren ab 1933 Zwangssterilisationen möglich, nämlich bei „Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, Epilepsie, Veitstanz, erblicher Blindheit und Taubheit, schweren erblichen Mißbildungen, schwerem Alkoholismus“. 400.000 Mal soll es dazu gekommen sein, laut Berichten starben 5.000 Patienten nach dem Eingriff. 1945 endete diese Praxis.

Auch in Peru wurden unter Alberto Fujimori mehr als 272.000 Frauen und 22.000 Männer ohne ihre Einwilligung sterilisiert, um die Armut zu bekämpfen. El País schildert das Schicksal von Celia Ramos – eines von vielen –, die wegen einer Zahnbehandlung ein Krankenhaus aufsuchte und es mit einer Empfehlung für eine Tubenligatur (Abbinden der Eileiter) wieder verließ. Sie gab dem Drängen des medizinischen Personals nach, das sie wiederholt zu Hause besuchte, und starb 19 Tage nach ihrer Operation.

Anzeige
Die mobile Version verlassen