Das Rennen um die Nachfolge von Boris Johnson nimmt Formen an. Bis jetzt haben elf Abgeordnete ihre Kandidatur erklärt. Geht man nach der Zahl der Unterstützer, dann wird die Liste eindeutig von dem erst 40-jährigen Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak angeführt, der 40 Abgeordnete hinter sich geschart hat. Handelsministerin Penny Mordaunt folgt mit 24 Unterstützern aus der Fraktion. Der Hinterbänkler Tom Tugendhat konnte bisher 20 Unterstützer sammeln.
Am Montagabend wollten die Hinterbänkler des mächtigen „1922 Committee“ über zwei Fragen beraten: Zum einen erwogen sie den Versuch, Johnson durch eine Regeländerung zum sofortigen Rücktritt auch als Premierminister zu zwingen. Am Ende verging der Montagabend, ohne dass eine Entscheidung zu Johnson bekannt geworden wäre. Der Premier kann also vorerst bleiben. Am 5. September will das „1922 Committee“ seinen Nachfolger bekannt geben.
Zum anderen ging es den Abgeordneten um eine Verengung des Kandidatenfelds. Bis zum 20. Juli will man das Feld auf zwei Kandidaten eingedampft haben, so der Schatzmeister des Hinterbänkler-Komitees. Aus diesen beiden Endkandidaten wählen dann alle Parteimitglieder den neuen Vorsitzenden. Beschlossen wurde eine Schwelle von 36 Unterstützern (das sind zehn Prozent der Fraktion). Hat ein Bewerber weniger, muss er seine Kandidatur aufgeben. Das dürfte in den kommenden Tagen für Dynamik sorgen.
Offenbar waren die britische Gesellschaft und die konservative Partei in der Lage, diese Menschen aufzunehmen. Ein Grund dürfte in ordentlichen Verfahren zu suchen sein, die wirkliche Talente anziehen. Viele wandten oberflächlicherweise ein, dass man nicht zugleich Nachkomme von Einwanderern und für das Ruanda-Abkommen der Regierung sein könne. Aber bis jetzt hat keiner der Bewerber diesem Vorhaben widersprochen, insofern scheint es auf jeden Fall fortgeführt zu werden.
Auf der Insel gibt es außerdem keine spalterischen Diskussionen über Fish-and-Chips-Esser oder Gurkensandwichs zum Tee. Die Konservativen haben Diversität und Parität zwischen Männern und Frauen ganz ohne „Antirassismus“ und Quoten geschafft. Einigen „Kritikern“ der konservativen Partei war das einen (inzwischen gelöschten) Tweet wert. Übrigens ist auch Tom Tugendhat mütterlicherseits Franzose, Katholik und väterlicherseits jüdischer Herkunft.
Sunaks Kampagne erleidet erste Kratzer
Wichtiger als ihre Herkunft sollten ohnehin die politischen Positionen der Kandidaten sein. Aber auch das Auftreten ist nicht ganz unwichtig. Auf diesem Feld hat Sunaks Kampagne bereits erste Kratzer bekommen: In einem Wahlkampfvideo, das er offenbar vor seinem Rücktritt als Schatzkanzler vorbereitet hatte, erzählt er die Einwanderungsgeschichte seiner Eltern, lässt aber die teuren Schulen und Universitäten, die er selbst besuchte, unerwähnt. Das wunderte den erfahrenen Moderator Andrew Neil bei GB News. Johnson und die Seinen sind der „Schlange“ Sunak ohnehin laut Gerüchten nicht wohlgesonnen. Die konservative Kommentatorin Anne Widdecombe sprach sich gegen Sunaks Kurs der hohen Steuern aus und gab zu bedenken, dass er durch vergangene Skandale wegen seiner reichen Frau und seiner eigenen US-Greencard angreifbar geworden sei: Die Skandalmaschinerie der britischen Medien werde solches Material nicht ungenutzt liegen lassen, auch wenn die Vorwürfe unfair seien.
Die Auswertung von Wettraten ist eine besonders raffinierte Methode des britischen Journalismus, um die Chancen verschiedener Kandidaten einzuschätzen. Auch nach diesem Kriterium führt Rishi Sunak das Feld derzeit relativ eindeutig mit 38 Prozent Siegeschancen an. Chancenreich erscheinen den außenstehenden Wettern daneben vor allem Penny Mordaunt und Liz Truss.
An die vierte Stelle von einem vormaligen achten Platz kann die zurückgetretene Staatsministerin Kemi Badenoch aufschließen und sich damit einen Achtungserfolg bei den Buchmachern sichern. In der konservativen Fraktion hat sie bisher 15 Unterstützer, von denen sie für ihre „Klarheit der Analyse“ und die Bereitschaft, harte Entscheidungen zu treffen, gelobt wird.
Badenoch: Menschen haben zu oft das Gefühl, dass die Antwort stets ‚mehr Staat‘ ist
Zu ihren Unterstützern gehört auch der entlassene Levelling-up-Minister Michael Gove, der selbst nicht antreten will. Gove schreibt in einem Gastbeitrag für die Sun, Badenoch sei ebenso mutig wie prinzipienfest und verbinde „intellektuelle Autorität“ mit „Leidenschaft“. Badenochs habe sich – ganz im Sinne ihres Amtes – gegen Hindernisse bei Integration und Gleichstellung eingesetzt, sei aber zugleich der woken Identitätspolitik mit guten Argumenten entgegengetreten. Sie habe aber nicht nur die Debatten gewonnen, sondern danach auch etwas umgesetzt. Badenoch sei der „Alptraum von Keir Starmer“ – aber das behaupten auch andere Kandidaten von sich.
In einem Gastbeitrag für die Times, in dem sie ihre Kandidatur erklärt, spricht sich Badenoch für eine „starke, aber eng umgrenzte Regierung“ aus, die sich auf ihre wesentlichen Aufgaben konzentrieren solle: „Die Menschen haben zu oft das Gefühl, dass ganz gleich, wen sie wählen, die Antwort stets ‚mehr Staat‘ ist. … Mehr Steuern, mehr Regeln und Regulierungen. Und immer billigere Kredite, um die Regierung über Wasser zu halten, ungeachtet der Kosten für Sparer und die breitere Wirtschaft.“
Der modischen Identitätspolitik, die eine Nation nicht zusammenhalten könne, hält sie die Meinungs- und Redefreiheit entgegen, sozialistischen Tendenzen ein Bekenntnis zum freien Markt. Nebenbei kritisiert sie den Online Safety Bill ihrer Parteifreundin Nadine Dorries, der „verletzte Gefühle“ gesetzlich regeln wolle. Außerdem plädiert sie für Ausgabenzurückhaltung und den Schutz der Grenzen: „Mit der Nullsummen-Identitätspolitik“ von heute könne man jedenfalls „keinen Nationalstaat mit Bindekraft aufrechterhalten“. Badenoch jedenfalls will den Wählern reinen Wein einschenken, ihnen befreiende Wahrheiten sagen.
Jenseits von Badenoch beginnt die eindeutige Parteirechte, die derzeit noch ihren Kandidaten sucht. Suella Braveman hat die Stimmen der European Research Group. Der ERG-Hinterbänkler Steve Baker hat zu ihren Gunsten auf eine Kandidatur verzichtet. Priti Patel will letztlich nicht antreten, wohl auch, um die Stimmen der Parteirechten zusammenzuhalten. Auch Liz Truss könnte den rechten Flügel abdecken, den das Eintreten für niedrigere Steuern eint. Dagegen gilt Rishi Sunak als Kandidat der Zentristen, die eher für die „schwarze Null“ sind und deshalb Steuersenkungen vermeiden wollen, sogar partielle Erhöhungen wie die „Glücksfall-Steuer“ für Energiekonzerne durchgesetzt haben.
Rees-Mogg: Neuer Premier muss Bürgerwillen zum Brexit akzeptieren
Brexit-Minister und Johnson-Loyalist Jacob Rees-Mogg stellte nun ein Brexit-Kriterium für den neuen Premier auf: Er müsse auf jeden Fall den konservativen Gesetzentwurf zum Nordirland-Protokoll weiterführen. Gesagt ist damit, dass die Chancen des Brexits noch kaum sämtlich ergriffen sind und auch der kommende Premier weiter daran arbeiten muss, das Königreich aus den kontinentalen Banden zu befreien. Der nächste Anführer der Konservativen müsse „dem Brexit verpflichtet bleiben“ und den demokratischen Willen der Bürger akzeptiert haben.
In eine ähnliche Richtung gehen – kaum verwunderlich – die Kommentare von Nigel Farage. Er glaubt, dass es einen „Brexit 2.0“ brauche, wenn die Konservativen an der Macht bleiben wollten. Johnson habe eigentlich nicht verstanden, wozu die Entscheidung zum EU-Austritt gut sei. Als vordringlich sieht Farage die Energie-Unabhängigkeit und die vollständige Loslösung vom Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg.
Das Rees-Mogg-Kriterium wird am sichersten von drei Frauen erfüllt: Liz Truss, Suella Braverman und Kemi Badenoch stehen gleichermaßen dafür, die Vereinbarungen mit der EU zu überarbeiten, soweit nötig. Laut dem Herausgeber des Spectator, Fraser Nelson, ist Badenoch eine verlässliche Advokatin des EU-Austritts. Die Idee zur Änderung des Nordirland-Protokolls kam ursprünglich von Liz Truss, noch in ihrem vorigen Amt als Staatssekretärin für internationalen Handel. Auch Suella Braverman, Tochter indischer Einwanderer, ist Brexit-Anhängerin der ersten Stunde. Daneben glaubt Rees-Mogg, der eigene Ambitionen zunächst zurückstellt, dass sich der neue Premierminister umgehend einem allgemeinen Wahlgang aller Bürger stellen sollte.