Eigentlich war dieses Abkommen kein großes Ding mehr. Die EU wollte vor allem eine Geschäftsgrundlage mit dem politisch bedeutenden Nachbarn. Großbritannien möchte etwas Handel und Wandel mit der Euro-Zone treiben, unter anderem um die gewohnten Güter von dort zu beziehen. Daneben ist die Insel für die EU-Länder ein eher kleiner Markt, und die EU für das Vereinigte Königreich keineswegs der einzig denkbare Abnehmer von Waren und Dienstleistungen. Insofern trafen sich hier zwei »Freunde«, wie man jetzt wohl sagen muss, unter Abwesenheit von beengenden Zwängen und Begrenzungen. Man wollte zwar nicht ohne Deal aus diesem Jahr gehen, konnte sich aber im Grunde auf die Macht des Faktischen und Funktionierenden verlassen. Ein Gefühl, das allerdings während des gesamten Brexit-Prozesses nicht aufkommen wollte. Aber gut, das nennt sich wohl Verhandeln.
Die kontinentale ›Elite‹ kann sich freilich immer noch nicht abfinden mit dem Brexit.
So bleibt uns Brexit-Interessierten nur das Vergnügen, die hiesige Remainer-Presse so recht von Jammer und Schaudern geschüttelt zu sehen. Annette Dittert, ARD-Korrespondentin in London, fand es »ein seltsames Ende«. Viereinhalb Jahre Streit und jetzt auf einmal eine breite Mehrheit im britischen Unterhaus, wo die größte Oppositionspartei freiwillig mit der Regierung stimmte. Normal ist das in der Tat nicht. Aber der Brexit wird so durch die Hintertür zum nationalen Konsens, zumindest für den größten Teil des Königreichs. Boris Johnson ermahnte seinen politischen Hauptkonkurrenten entsprechend: »We got Brexit done, let’s keep Brexit done.« Großbritannien trete damit in ein neues Verhältnis zu seinen europäischen Nachbarn ein, das vor allem durch »Freihandel und freundschaftliche Zusammenarbeit« geprägt sein werde.
European Research Group: Das »level playing field« muss »robust« umgesetzt werden.
Die SNP-Abgeordneten stimmten so faktisch für einen No-Deal-Austritt, wie Keir Starmer nicht müde wurde zu betonen. Der Labour-Chef hat sich auf ein Ja zum Handelsabkommen festgelegt und will so vermutlich Leave-Voter aus den einstigen Labour-Sitzen im englischen Norden zurückgewinnen. Ob ihm das gelingen wird, bleibt unsicher. Denn zum einen tendieren Wähler zum Original, und das sind in Brexit-Fragen inzwischen Johnson und seine Konservativen geworden. Sie haben diesen Titel von Nigel Farrages Brexit Party übernommen, weiter nach links wird der Pokal aber wohl nicht mehr wandern. Zum zweiten riskiert Starmer, es sich auch noch mit dem Remain- Lager zu verscherzen. In seinem Schattenkabinett drohten bereits erste Rücktritte. Aber bei der Abstimmungen versagten Starmer nur einige wenige Abgeordnete die Gefolgschaft.
Nach Sturgeon ist dieser Handelsdeal ein »Ausverkauf« der britischen Fischer. Dass es ihr um anderes geht, ist klar. Ihre SNP ist der Platzhirsch in Schottland und verkörpert dort ebenso die Unabhängigkeitsbestrebungen von London wie eine große Anhänglichkeit an Brüssel. Zwei Gründe, im Unterhaus eine radikale Opposition zu Johnson zu pflegen. Sturgeon gibt sich populär. Tatsächlich haben die Briten durch den Deal mehr Spielraum für ihre Fischereiwirtschaft gewonnen, als vorher innerhalb der EU vorhanden war. In den kommenden fünf Jahren wird der britische Anteil am heimischen Fischfang schrittweise steigen, ab 2026 könnte man die EU-Fischer sogar ganz aus den eigenen Fanggründen verweisen. Das muss nicht passieren, denn die Fischereirechte sind ein schönes Faustpfand für andere Zugeständnisse, die London dringender vom Kontinent braucht. Die Möglichkeiten für das Land sind damit größer und nicht kleiner geworden.
Wirklich (und nicht scheinbar) kritisch prüfte das über 1.200 Seiten zählende Vertragswerk die European Research Group aus der Konservativen Partei, die strikt auf den Brexit und die neugewonnene Unabhängigkeit des Königreichs bedacht ist. Der Vertrag befindet sich laut ihrem Votum »in Übereinstimmung mit der Wiederherstellung der britischen Souveränität«, solange die Regelungen zum »level playing field« von britischer Seite »robust« ausgelegt und angewandt würden. Dann bliebe ihre Auswirkung auf die praktische Ausübung der Souveränität gering. Dieser Gedanke war, entgegen allem Geschrei von Xenophobie und Rechtsdrall, der Hauptgrund für das Ja zum Brexit: Die Briten wollten im eigenen Haus wieder selbst entscheiden, und das überparteilich. Take back control.
Handelskrieg mit London? Wirklich?
Hierzulande bleibt der Brexit ein Lieblings-Hassobjekt der linken Journalistenkaste. Zur »unappetitlichen Episode« erklärt ihn Peter Rutkowski in der Frankfurter Rundschau, ein »unwürdiges Treiben« sei das gewesen, von dem sich moralisch denkende Zeitgenossen mit Abscheu abwenden müssen, um von der »suizidalen sozialdemokratischen DNA« der (nun zustimmenden) Labour Party zu schweigen. Ja, diese »suizidalen« Tendenzen scheinen in der Tat untherapierbar, aber Starmer könnte sich und seine Partei durch einen beherzten Gang ins Zentrum der britischen Gesellschaft davon befreien. Für die Deutsche Welle stellt Bernd Riegert murrend fest: »Niemand wird zur Mitgliedschaft [in der EU] gezwungen.« Genau das ist der Punkt.
Aber wie steht es wirklich um die neue Unabhängigkeit der Briten? Der Moderator aus dem Tagesschau-Studio fragt nach der »großen Freiheit« der Briten: Ist die wirklich »ohne wirtschaftliche Nachteile«? Etwas gequält erzählt Annette Dittert, wie Johnson genau das an jenem Tag noch einmal »euphorisch beklatscht« habe, die Souveränität des Landes sei wiedergewonnen. Aber angeblich klang das nur so gut. Tatsächlich sei alles anders, wendet die Korrespondentin streng ein. De facto müsse das Inselreich auch weiterhin EU-Standards einhalten. Sonst drohen Brüsseler Handelssanktionen, auch wenn die keineswegs zwingend sind. Aber dass Großbritannien sich an schon bestehende soziale und Umweltstandards halten will, stand eigentlich nie in Frage. Die Briten haben sich aus eigenem Antrieb teils ehrgeizigere Ziele gesetzt, als die EU-Staaten miteinander festlegen konnten.
Dann wären da noch die staatlichen Subventionen für das Leveling-up des englischen Nordens und den Aufbau von Innovationsclustern, die nun angeblich verboten wurden. Aber auch hier sind Sanktionen gegen ein unbändiges Britannien vorerst kaum zu erwarten. Die EU schnitte sich auch in ihr eigenes Fleisch. Und selbst wenn die staatlichen Subventionen für das Leveling-up des Nordens nicht fließen können, wäre auch das vielleicht noch zum Vorteil des Königreichs, in dem sich die Zweifel an Rishi Sunaks »money tree« zuletzt mehrten. Natürlich sind diese »Geldbäume« inzwischen ein paneuropäisches Brauchtum, so wie es in manchen Landschaften die hoch aufragenden Maibäume sind. Auch insofern hat London hier vermutlich wenig zu befürchten. Unter den Blinden ist der Einäugige König.
Endlich eine Agrarpolitik aus einem Guss
Sogar die geplante Agrarpolitik Londons hört sich vernünftiger an als ihr EU-Gegenbild: Nicht nach Fläche will man die Bauern fördern – was bisher unter anderem der Queen und einem saudischen Pferdezüchter hohe Summen einbrachte –, sondern anhand von drei Kriterien: a) nachhaltige Bodenbearbeitung und Tierschutz, b) Renaturierung von Lebensräumen, c) Landschaftsschutz. In bester britischer Manier wird so das beste aus zwei oder drei Welten zusammengebracht: Eine schonende Landwirtschaft trifft auf die Wiederherstellung von Natur- und Kulturlandschaften, die im traditionsseligen England einfach sein muss. Ja, richtig, vorerst nur dort, denn die Agrarpolitik ist von der Devolution betroffen. Daher werden die Uhren in Wales oder Schottland vielleicht anders gehen.
Das Land entwindet sich damit einem bürokratischen Monstrum, in dem kaum noch auf die einzelnen Regionen Europas geschaut wird, sondern alles irgendwie vereinheitlicht wird – bis zu den Versuchen, den Föderalismus in Deutschland oder anderswo zurückzudrängen. Aber das ist ein zu durchsichtiges Vorgehen: Denn natürlich wäre bei einer Föderalisierung der EU kein Platz mehr für einen echten Föderalismus auf der nationalen Ebene. Das wäre eine Differenzierung zu viel. Die Briten können sie nun aufleben lassen. Nicht nur im Sinne der Devolution, sondern auch in dem einer Aufwertung und (vielleicht endlich wieder) Gleichwertigkeit des englischen Nordwestens gegenüber dem reichen Südosten mit London. Aber wie weit sie das alles tun oder lassen werden, bleibt nun ganz allein ihnen überlassen.