»Die überraschende Wendung, in der Boris das Virus bekommt, kam etwas früher, als ich sie persönlich gesetzt hätte.« So twitterte es ein Novellist, als er die schlechten Nachrichten vom 27. März vernahm. Der Romanautor Jonathan Coe, zuletzt durch den Brexit-Roman »Middle England« aufgefallen, reagierte mit diesem Satz irgendwo zwischen Amüsement und Metier, als Johnson bekannt gab, sich mit dem neuen Coronavirus infiziert zu haben.
Alles ist Theater. So kann man die Weisheit einiger in der Sache Johnson vs. Corona offenbar zusammenfassen. Johnson wird die Fähigkeit und die Chuzpe zugeschrieben, seine Landsleute durch private Inszenierungen zu unterhalten und sich damit ihre Gewogenheit zu sichern. So hatte man schon die Schwangerschaft von Carrie Symonds, der Lebensgefährtin Johnsons, sozial-medial gedreht und zum heimlichen Werbeträger für den Premier erklärt.
Die ursprüngliche Strategie
Rekapitulieren wir kurz. Anfang März hatte Boris Johnson, offenbar auf den Rat seiner wissenschaftlich-medizinischen Berater hin, die Idee geäußert, dass man den britischen Teil der Pandemie am besten »in einem Schwung« hinter sich bringen könne (»take it on the chin, take it all in one go«). Es wäre also darum gegangen, relativ rasch die Immunität der berühmten 60 bis 70% der Bevölkerung zu erreichen. Dieser Kurs wurde viel kritisiert, und so machte der Premier eine Kehrtwendung und führte Eindämmungsmaßnahmen ein, die den deutschen nicht in Strenge nachstehen. Beide Länder gehen damit einen Mittelweg zwischen den stärkeren Ausgangssperren des europäischen Südens und dem liberalen Modell, dem man in Schweden oder abgeschwächt in Dänemark aufgrund der Staatstreue der Skandinavier noch folgen kann.
Doch etwas von seiner alten Unbekümmertheit hat sich Johnson bewahrt, zumindest in Bezug auf seine eigene Person. So rühmte er sich während einer Pressekonferenz, die Hände zahlreicher Krankenhauspatienten – darunter angeblich auch mit dem Coronavirus Infizierte – geschüttelt zu haben. Das war am 3. März. Johnsons wissenschaftlicher Berater machte damals ein durchaus problematisches Gesicht und erinnerte die Bürger umgehend an das Händewaschen.
Chronik einer Infektion
Am 27. März erklärte Johnson in einem kurzen Video, dass er sich mit dem neuen Coronavirus angesteckt hatte, Symptome der davon ausgelösten Krankheit zeige und sich daher in Quarantäne begebe. Die Türen, die die private Wohnung des Premiers mit den Arbeitsräumen in den Nummern 10, 11 und 12 der Downing Street verbinden, wurden verriegelt. Mahlzeiten und Papiere für den Premierminister hinterließ man fortan an einem der Zugänge zu seiner Wohnung. Johnson wohnt wie seine unmittelbaren Vorgänger in Nr. 11. Doch auch während der Isolation blieb Johnson mit seinem Team in Kontakt, um die »Abwehr des Coronavirus« zu organisieren. Screenshots von großen Video-Konferenzen des Kabinetts machten die Runde im Netz (und wurden kritisiert, da man sich dadurch verwundbar für feindliche Hackerangriffe mache). Bald fragten Parlamentarier und Kommentatoren, ob sich der Premier mit diesem Arbeitsethos nicht übernahm.
Am Abend zuvor war Johnson noch an der Haustür von No. 10 erschienen, um den Mitarbeitern des nationalen Gesundheitssystems NHS seinen etwas einsamen Beifall zu spenden. Von einem eigenen Krankenhausaufenthalt wollte man da noch nichts wissen. Seit Freitag gibt es kein Bildmaterial mehr von Johnson. Wie sich am Montag herausstellte, hatte sein Stellvertreter Dominic Raab über das Wochenende keinen persönlichen Kontakt mehr mit Johnson. Am Samstag wurde auch seine Lebensgefährtin Carrie Symonds, die die Woche in separater Isolation verbracht und dabei Symptome gezeigt hatte, positiv getestet.
Ein Beatmungsgerät steht bereit
Am Sonntagabend wurde Johnson – angeblich »für einige Routineuntersuchungen« – in das Londoner St. Thomas’ Hospital gebracht. Erst am Montag wurde bekannt, dass er dort noch am Vortag eine Sauerstoffbehandlung erhielt. Es sei aber »keine Notfalleinweisung« gewesen ist, wie die Regierung feststellte. Johnsons Symptome hielten nach Informationen des Spectator an, verschlimmerten sich aber zunächst nicht. Am Montag war Johnson noch bei Bewusstsein, ließ sich gar Akten an sein Krankenbett kommen. Er sei »guter Dinge«, im Kontakt mit seinem Team und damit beschäftigt, das Virus zu bekämpfen – in der Tat. Regierungsmitarbeiter wünschten ihm, es auch einmal langsam angehen zu lassen. »Pass auf dich auf, Boss. Werde gesund. Komm als Kämpfer zurück«, sagte James Duddridge aus dem Außenamt. »Aber jetzt ruh dich erst einmal aus und lass die anderen die schwere Arbeit erledigen.«
Der »Guardian« gab zu bedenken, dass Johnson sich in der gefährlichen zweiten Woche der Krankheit befindet, in der das Immunsystem überreagieren und die eigenen Körperorgane angreifen könne. Schon letzte Woche wollte die Zeitung erfahren haben, dass die Erkrankung des Premierministers ernster ist, als er oder sein Umfeld zugeben wollen. Ärzte, die ihn besuchten, hätten Sorgen über seine Atemkapazität geäußert. Am Montagabend, gegen 19 Uhr Ortszeit, wurde der Premier vorsorglich auf die Intensivstation des Londoner St. Thomas’ Hospital verlegt. Russische Meldungen, nach denen Johnson bereits am Sonntag aktiv beatmet wurde, bezeichnete die britische Regierung als »Desinformation«. Aber natürlich steht ein Beatmungsgerät bereit.
Die Queen wünscht sich »ruhige, gutgelaunte Entschlossenheit«
Dass die Lage ernst ist, zeigte die Fernsehansprache der Queen, die am Sonntagabend auf merkwürdige Weise mit der Krankenhauseinweisung Johnsons zusammentraf. Sicher ist, dass über eine solche Rede nicht im Palast entschieden wird. Vielmehr werden die Ansprache und ihr Zeitpunkt von der Regierung Ihrer Majestät bestimmt. Die Queen meldete sich aus eigener Isolation auf Schloss Windsor und verband die heutige Trennung von Familien virtuos mit der Evakuierung von Kindern im Zweiten Weltkrieg – dem Thema ihrer ersten Radioansprache aus dem Jahr 1940.
Ihre Rede war schlicht und knapp, verfügte aber über den Mindestgehalt einer staatstragenden Ansprache. Zunächst sprach die Königin von »einer Zeit der Disruption«, die ebenso Trauer (für einige) wie finanzielle Schwierigkeiten (für viele) und eine enorme Umstellung im täglichen Leben (für alle) mit sich gebracht habe. Sie dankte dann denen, die derzeit an der Bewältigung der Krise arbeiten. Hier wurden Bilder von Ärzten, Pflegern und von Bauarbeitern, die ein provisorisches Hospital errichten, eingeblendet.
Natürlich ist es nicht sonderlich originell, die Briten zum Durchhalten wie einst im Zweiten Weltkrieg aufzufordern. Das Versprechen am Schluss – »We will meet again«, ein Schlager aus jener Weltkriegszeit und schon ganz nah am italienischen »Rinascerò, rinascerai« – war aber pathetisch genug, um vielleicht auch die Heutigen zu beeindrucken. Einigen Sinn hatte daneben der Verweis der Monarchin auf die britischen Tugenden. Ihren Untertanen wünschte sie, dass »Selbstdisziplin, ruhige, gutgelaunte Entschlossenheit und Mitgefühl« das Land auch in Krisenzeiten auszeichnen: »Der Stolz darauf, wer wir sind, ist nicht Teil unserer Vergangenheit, sondern bestimmt unsere Gegenwart und Zukunft.«
Dominic Raab als »designierter Überlebender«
Neben Johnson war Ende März auch der Gesundheitsminister Matt Hancock positiv getestet worden. Symptome zeigten zudem Verteidigungsminister Ben Wallace, der medizinische Berater der Regierung Chris Whitty und Johnsons Chefberater Dominic Cummings. An der kurzen Liste zeigt sich bereits der Abdruck eines ›infizierten‹ Gesundheitssystems, dessen beide höchste Repräsentanten sich vermutlich in Ausübung ihres Dienstes infiziert haben – ebenso wohl Johnson selbst. Die Minister Wallace und Hancock sind inzwischen wieder gesundet. Mehrmals negativ getestet wurde hingegen Außenminister Dominic Raab, der im Falle von Johnsons Ausfall als »designated survivor« die Regierungsgeschäfte leiten soll. Am Montag leitete Raab bereits die Sitzung des britischen Corona-Kabinetts. Er soll Johnson von nun an, wo nötig, vertreten und versicherte, die Pläne des Premierministers zur Bekämpfung des Coronavirus getreulich auszuführen.
Man denkt an die Bundesdrucksache 17/12051 von 2013 zurück, in der das Robert-Koch-Institut davon ausging, dass der Ausbruch eines damals noch fiktiven »Modi-SARS-Virus« die Bundesrepublik ebenso wie jedes westliche Industrieland leicht lahmlegen könne. In der damaligen Risikoanalyse heißt es unter anderem: »Personalengpässe in Regierung und Verwaltung können durch Anpassungen abgefangen werden.« Man dachte wohl vor allem an die nachgeordneten Mitarbeiter der Bundesregierung. Was aber, wenn ein Loch in die Mitte des politischen Lebens eines Landes gerissen wird? Die davon ausgehende Verunsicherung hatte das RKI-Szenario nicht zu erwägen. Das ist den politischen Zeitgenossen vorbehalten. Noch am Montag hatte Johnson in zwei Twitter-Nachrichten von seiner Hospitalisierung berichtet und die Briten dazu aufgefordert, zu Hause zu bleiben, um den NHS zu schützen und Leben zu retten. Für jetzt bleibt, ihm selbst alles Gute und möglichst baldige, vollständige Genesung zu wünschen.