Ich habe die vergangene Woche einige Leser aufgebracht, weil ich den Vorsitzenden der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, als Antisemiten bezeichnet habe. Es trifft natürlich zu, dass ich zu seinen innersten Gedanken und Gefühlen keinen Zugang habe. Es trifft auch zu, dass er keine offen antisemitische Reden hält. Aber leider ist damit noch lange nicht alles gesagt.
Alles in allem hat er hat sich seit langer Zeit so verhalten, dass man ihn – wenn auch nicht mit forensischer Akribie nachgewiesen – für einen Antisemiten halten muss. Ich werde hier einige Beispiele dafür aufzählen.
2012 wurde im Ostlondoner Bezirk Tower Hamlets auf einer Wand eine riesige antisemitische Malerei mit dem Titel „Freiheit für die Menschheit“ angebracht, deren Darstellungen einen Julius Streicher mit Stolz erfüllt hätten. Darauf spielten jüdische Investoren und Kapitalisten Monopoly auf einem Brett, das auf dem Rücken nackter farbiger Personen angebracht war.
Zehn Jahre lang pflegte Corbyn gute Beziehungen zu einer Organisation mit dem Namen „Deir Yassin Remembered“ und besuchte deren jährliche Kongresse. Er behauptet, nicht gewusst zu haben, dass die Organisation von Holocaust-Leugnern gegründet wurde. Das ist glaubhaft, wenn es sich um ein, zwei Jahre handelt, aber nicht, wenn es um zehn Jahre geht. Er lud den palästinensischen Islamisten Raed Salah, der zu Morden an Juden aufruft und wegen eines tödlichen Angriffs auf einen israelischen Polizisten verurteilt wurde, ins britische Parlament ein. Er nannte ihn dort einen „sehr verehrten Bürger“, obwohl Saleh wiederholt die Ritualmordlegende verbreitete, der nach Juden das Blut christlicher Kinder für die Herstellung von Matzen benutzten, er verglich Juden mit Affen und Bakterien und behauptete, sie stünden hinter dem Terrorangriff auf New York am 11. September.
Von 2013 bis 2015 war Mr Corbyn Mitglied einer privaten Facebook-Gruppe mit dem Namen „Palestine Live“, die für ihren wiederholten Antisemitismus und der Negierung des Holocaust bekannt war. Er selbst hat keine antisemitischen Bemerkungen gepostet, und später behauptete sein Stellvertreter, er habe sich nicht selbst der Gruppe angeschlossen, sondern wurde ihr angeschlossen, und außerdem habe er die Seite nicht untersucht und kannte deshalb ihren Inhalt nicht. Allerdings hat er einige der Posts kommentiert, also musste er deren Inhalt doch irgendwoher kennen. Er trat erst aus der Facebook-Gruppe aus, als er Vorsitzender der Labour-Partei wurde.
Obwohl Mr Corbyn sich öfters als Pazifisten bezeichnet und mehrfach erklärt hat, die Britische Armee auflösen zu wollen, ist er ein ständiger Befürworter palästinensischer Gewalt. Er nannte Hamas und Hisbollah „unsere Freunde“, und wie es bei ihm üblich ist, gab er seinen Irrtum erst zu und zeigte Reue, als es für ihn opportun war. Die Ehrlichkeit seiner Reue darf bezweifelt werden.
Man kann Israel und auch den Zionismus tadeln, ohne dass man Kränze an den Gräbern von Terroristen niederlegt. Aber das hat Mr Corbyn 2014 in Tunis getan, was er zunächst leugnete – woraus man auf schlechtes Gewissen oder auf die Angst vor dem politischen Schaden schließen könnte. Seine ursprüngliche Behauptung, dass er nur dort war, wurde unhaltbar, als Photos auftauchten, die ihn den Kranz haltend zeigten. Diese Ausweichmanöver und Mehrdeutigkeiten sind typisch für ihn.
Man kann Israel kritisieren, ohne dabei jedoch jene Mitglieder der Labour-Partei zu verteidigen, die ebenso wie ihr Vorsitzender behaupten, Israel sei die heutige Entsprechung Nazi-Deutschlands. Mr Corbyn hat dies behauptet. Seine obsessive Beschäftigung mit der israelisch-palästinensischen Thematik, die weit über sein Interesse an anderen außenpolitischen Themen hinausgeht, ist schon an und für sich verdächtig.
2013 sagte Corbyn nach einem Gespräch im „Palestine Return Centre“ mit dem Vertreter der Palästinensischen Autonomieregierung, Manuel Hassissian, in einem Kommentar:
„Es gibt offensichtlich zwei Probleme (mit den britischen Zionisten). Das eine ist, dass sie die Geschichte nicht studieren, das andere ist, dass sie die englische Ironie nicht verstehen, obwohl sie schon lange, wahrscheinlich schon ihr ganzes Leben lang in diesem Land leben.“
Damit zeigte er den Kontrast zu Hassissian auf, der (nach Corbyns Lesart) durchaus imstande ist, die englische Ironie zu verstehen.
Mal abgesehen von den eigenen Schwierigkeiten Mr Corbyns, Ironie zu verstehen, benutzt er hier eine alte antisemitische Stereotype. Der nach ist es egal, wie lange schon Juden in einem Land leben, können sie die Seele ihres Landes nicht begreifen, und können deshalb auch nicht eins mit ihm werden. Ebenso absurd ist es zu behaupten, dass Zionisten die Geschichte nicht studierten, sie sind höchstens zu anderen Schlüssen gelangt als Jeremy Corbyn.
Wichtiger ist, dass Mr Corbyn bisher nicht als der große Verteidiger der englischen und britischen Identität hervorgetreten ist. Seit geraumer Zeit ist er ein Anhänger der uneingeschränkten und unkontrollierten Migration nach Großbritannien, und noch nie hat er eine Gruppe unter den Einwanderern (zum Beispiel die muslimischen Terroristen von Manchester und London) beschuldigt, kein Verständnis für die britische Ironie zu haben. Nur im Falle der Zionisten beklagte er ihre Unfähigkeit, richtige Engländer zu werden. Da man ihn jedoch noch nie erlebt hat, wie er seinem Land Anerkennung zollt, wäre es sogar möglich, dass es sich hier eher um ein Kompliment gehandelt hat.
Wie es bei ihm üblich ist, hat er sich auch für diesen Spruch später entschuldigt, aber erst als er keinen anderen Ausweg mehr sah.
Es ist wahr, dass alle bisher genannten Beispiele – es gibt ihrer noch viele – auch anders als mit Corbyns Antisemitismus erklärt werden können. Er hat sich die Wandmalerei nicht genau angeschaut, er wusste nicht, dass er sich mit Holocaust-Leugnern zusammengetan hat, er legte einen Kranz für die Opfer des Terrorismus nieder und nicht für jene, die Israelis (unter ihnen die Athleten von München) ermordeten, er hat die Charta der Hamas nicht gelesen, er meinte nicht wirklich, dass die britischen Zionisten keine echten Briten seien, und so weiter. Aber die einfachste Erklärung nach Ockhams Regel ist dann doch, dass er ein Antisemit ist. Vielleicht keiner mit Schaum vorm Mund, aber doch einer.
Etliche Mitglieder seiner Partei – die meisten unter ihnen keine Juden – sind deshalb von ihren Ämtern zurückgetreten. Richard Horton, Mitglied der Labour-Partei, der in Corbyns eigenem Wahlbezirk im Wahlkampf für ihn kämpfte, klagt ihn in einem offenen Brief an und stellt zu Recht die Frage, warum Mitglieder der Partei Corbyns Treiben so lange geduldet haben:
„Der Antisemitismus ist in der Labour-Partei zur Normalität geworden, und meiner Meinung hat er durch Ihr Benehmen die Legitimation erfahren. Ihre Freundschaften mit Verschwörungstheoretikern, Holokaust-Leugnern und Unterstützern von Terrorgruppen verschafft ihnen [den Antisemiten] die Glaubwürdigkeit für ihre Ideen. (…) Es ist meine Überzeugung, dass Sie Dinge gesagt und getan haben, die eindeutig antisemitisch sind. (…) 2014 legten Sie einen Kranz nieder, mit dem Sie Mitglieder des Schwarzen September und die Terroristen ehrten, die den Mord an elf israelischen Athleten organisiert hatten. (…)
Wenn ich mir die Ihre Berichte anschaue (…) und sehe, dass alle Treffen und Gespräche mit diesen Verschwörungstheoretikern und Rassisten dokumentiert sind, dann frage ich mich, warum wir damals nicht darauf aufmerksam wurden. Ich kann nur annehmen, dass wir Sie als irrelevant und Ihre Aktivitäten als anachronistisch einstuften.
Leider sind Sie jedoch nicht mehr irrelevant. Sie sind der Führer der Labour-Partei. Sie und ihr Klüngel von Ideologen und abgehobenen Stalinisten haben eine institutionelle Kultur geschaffen, in der der Antisemitismus gedeiht. Er ist von den Rändern bis an die Spitze der Partei vorgedrungen.
(…) Zurückzutreten ist die einzig anständige Haltung für mich.“
Der ganze Brief ist hier zu lesen.