Das italienische Kulturgedächtnis hat einen besonderen Nerv für Epidemien. Die Pestwellen Europas nahmen oftmals von den italienischen Häfen ihren Ausgang. Venezianische und genuesische Händler brachten Krankheiten aus dem Orient und den Steppen Asiens in das Herz des Kontinents. Die Gefahr schärfte das Bewusstsein. Vierzig Tage lang verwehrten die Venezianer seuchengeplagten Schiffen den Zugang zu ihrer Stadt. Im venezianischen Dialekt bezeichneten sie die vierzigtägige Periode als quarantena, aus dem sich im Deutschen das Wort „Quarantäne“ bildete.
Ab dem 15. Jahrhundert errichtete das Lagunenvolk auf der Insel Lazzaretto ein Spital, um dort die Pestkranken einzuquartieren. Ähnliches unternahmen die Venezianer in ihren Kolonien Korfu und Ithaka, wo zwei vorgelagerte Inselchen als „Lazarett“ dienten. Das Ringen mit der Pest und der glückliche Sieg über die Krankheit manifestiert sich nirgendwo so plastisch wie in der Kirche von Santa Maria della Salute, deren gewaltige Kuppel das Ende des Canal Grande überragt. Salute, das heißt Heil, das heißt Gesundheit. Die Venezianer hatten der Madonna ein neues Gotteshaus versprochen, sollte sie die Plage von der Stadt nehmen. Seit 1631 findet jährlich am 21. November eine Prozession statt, um für das Ende der Pest zu danken – bis heute.
Der andere – größere – Teil der Blockierten lebt in der Lombardei. In der Provinz Lodi, südlich der Millionenmetropole Mailand und in der Nähe der beiden großen Provinzstädte Cremona und Piacenza, herrscht gleich in zehn Gemeinden Ausgangssperre. Ihre Namen: Codogno, Castiglione d’Adda, Casalpusterlengo, Fombio, Maleo, Somaglia, Bertonico, Terranova dei Passerini, Castelgerundo e San Fiorano. Sie bilden ab jetzt eine „rote Zone“. Die Kleinstadt Codogno hat 16.000 Einwohner und ist damit der größte betroffene Ort. Die Züge halten hier nicht mehr, Schulen und Behörden bleiben geschlossen, öffentliche Veranstaltungen wurden abgeblasen. Die Restaurants und Bars sind leer. Selbst die Sonntagsmesse fällt aus. „Es ist, als wären wir in Wuhan“, sagt ein Einwohner gegenüber einem Reporterteam von RAI. Straßen und Gassen sind ausgestorben. In Casalpusterlengo laufen die Leute mit Atemschutzmasken in den Supermarkt, um sich für die kommenden Tage zu rüsten.
Nein, das Coronavirus ist nicht die Pest, und die italienischen Verhältnisse sind nicht mit den chinesischen zu vergleichen. Während sich nördlich der Alpen aber der Bayerische Rundfunk vor nicht allzu langer Zeit hinreißen ließ, die Gefahr durch das Coronavirus als Hysterie herunterzuspielen und Fakenews am Werk sah, um den Staat zu „destabilisieren“, hatten die Italiener von Anfang an einen empfindlichen Nerv für die Krankheit. Bereits nach den ersten Fällen rief Italien den nationalen Notstand aus, um im Zweifelsfall jene Maßnahmen durchführen, wie sie jetzt eingeleitet werden. Im selben Zeitraum überschlugen sich Gesundheitsminister Jens Spahn, das Robert-Koch-Institut und die Medienanstalten hingegen damit, wie hervorragend Deutschland auf eine Krankheit vorbereitet sei, die man gar nicht kannte. Während in Deutschland sonst jede Hysterie bedient wird, schien COVID-19 alleinige Sache von Verschwörungstheoretikern und populistischer Medien zu sein, die auf Klickzahlen spekulierten.
Die Fakten sehen so aus: 50.000 blockierte Italiener in 11 Gemeinden, 2 Tote, 132 Infizierte in fünf Regionen, zusätzlich eine große Dunkelziffer angesichts einer langen Inkubationszeit. Sämtliche Fußballspiele in der Lombardei und Venetien wurden abgesagt, die großen Universitäten haben ab Montag geschlossen. Nicht nur in Venedig, sondern überall in Venetien ist der Karneval abgesagt worden. Mittlerweile bereitet man sich auch in Südtirol auf das Virus vor, wo die Universität Bozen für eine Woche geschlossen bleibt. Die Situation zeigt, dass nicht die Letalität die vorsätzliche Gefahr darstellt, sondern geopolitische und globalökonomische Folgen aufgrund von Quarantäne, Krankenhausbelastung, Zusammenbruch des öffentlichen Lebens – und nicht zuletzt Medikamentenknappheit. Die Pharmaindustrie hat seit Jahren ihre Produktion nach Fernost verlagert. Und jeden Tag, den die „rote Zone“ von Codogno unter Quarantäne steht, entgehen der italienischen Volkswirtschaft geschätzte 4 Millionen Euro. Bei einer ganzen Provinz Lodi unter Quarantäne wären es 18 Millionen Euro.
Roberto Burioni, Professor für Mikrobiologie und Virologie, verdeutlichte in der Tageszeitung Repubblica, dass die Quarantäne die „einzige Möglichkeit“ sei, das Virus effizient einzudämmen. Man müsse nun aufpassen, dass aus den ersten Fällen keine Kettenreaktion entstünde. Und: „Die beruhigenden Erklärungen von einigen Politikern waren falsch.“ Auch Premierminister Giuseppe Conte betonte, wie wichtig es nun sei, betroffene Gebiete abzuriegeln. „Das Betreten und Verlassen dieser Gebiete ist verboten“, sagte der Regierungschef. Wenn nötig, müssten die Streitkräfte eingreifen, um die Quarantäne durchzusetzen. Wer die Absperrungen umgehe, riskiere strafrechtliche Verfolgung. „In diesem Moment haben wir nicht vor, den Vertrag von Schengen auszusetzen, weil wir das nicht für nötig halten“, trat Conte Gerüchten einer Grenzschließung entgegen. Italien dürfe kein Lazarett werden. Er rief stattdessen dazu auf, Verständnis für die Situation aufzubringen. Die Bevölkerung sollte beruhigt sein: „Wir haben alle Personen unter Quarantäne gestellt, die mit den infizierten Menschen in Kontakt gekommen sind.“
Scharfe Kritik erntete Conte vonseiten des Lega-Chefs Matteo Salvini. Bisher gilt die Quarantäne nur für Personen, die in Kontakt mit Infizierten standen, jedoch nicht prinzipiell für China-Rückkehrer. „Eine freiwillige Quarantäne für diejenigen, die aus China zurückkommen? Machen wir hier Witze? Die Gesundheit unserer Leute kommt vor allem anderen, wir haben eine Regierung satt, die nichts tut.“ Salvini hatte zuvor die Aussetzung des Schengen-Abkommens gefordert. Wenn Conte nichts tun wolle, dann solle er zurücktreten. Irgendetwas gehe bei den Kontrollen offensichtlich schief. „Es ist jetzt Zeit, unsere Grenzen zu schützen. Alles soll jetzt in zweite Reihe treten, die ganzen Streitereien zwischen Conte, Renzi und den Fünf Sternen. Jetzt ist Schluss, das ist ein nationaler Notfall, Schluss mit dieser ganzen Politik. Wir haben es gesagt, wir haben nach Grenzkontrollen gefragt und man hat uns Schakale und Faschistenleghisten genannt.“
Indes gehen neue Meldungen im Stundentakt ein. Ein neuer Fall im Valtellina an der Grenze zur Schweiz, neue Infizierte in Turin und Venedig, geschlossene Schulen in Mailand und der gesamten Lombardei. Die Emilia-Romagna denkt darüber nach, nachzuziehen. Die Abschlussprüfungen im Friaul sind abgesagt. Die Armani-Modeschau findet ohne Publikum statt und wird auf Livestream verlegt. 19 Infizierte von der „Diamond Princess“ haben das Land mit einem Militärflugzeug erreicht und stehen dort unter Quarantäne. Das Militär ist bereit, Kasernen im Notfall zu Krankenstationen umzubauen. Zwei Ärzte unter den neuen COVID-Fällen. Das Nachbarland Frankreich wappnet sich für eine Ausbreitung im eigenen Land.
Italien liegt jetzt auf dem vierten Platz bei den Ländern, die von der Epidemie erfasst wurden. Conte mag guter Hoffnung sein, dass es nicht das Lazarett Europas wird. Es ist aber ein Beobachtungsfeld Europas, wo zum ersten Mal die Krankheit untersucht werden kann – ohne das Nadelöhr chinesischer Staatspropaganda. Was Deutschland angeht, so ist man in Berlin offensichtlich überzeugt, dass es sich nur um eine vorübergehende Erscheinung handelt. Zumindest hielt es das Gesundheitsministerium nicht für nötig, seine Seite bezüglich der Ereignisse in Italien zu aktualisieren.