Tichys Einblick
Die Genfer Konvention wirkte nie

Wie wird der Überlebenskrieg Israels enden?

In den TV-Nachrichten hat sich der Ton etabliert, Israel als einziges Hemmnis für Waffenstillstand mit Hamas und Hisbollah hinzustellen. Im Gastbeitrag geht Gero Jenner Krieg und Frieden anders nach als unzählige Medieneinträge, nämlich auf den Grund.

picture alliance / Sipa USA | SOPA Images

Die Genfer Konvention von 1949 hat Kriegsverbrechen definiert, indem sie spezifische Regeln aufstellte, wie Kriege keinesfalls geführt werden dürfen. Die Schonung der Zivilisten steht da an erster Stelle. Diese Übereinkunft war ein großartiger Versuch, der Humanität zum Sieg zu verhelfen. Das Bemühen war allerdings von vornherein zum Scheitern verdammt.

Bis etwa zum Beginn der industriellen Revolution lagen Fürsten permanent miteinander im Krieg. Sie dienten der Erweiterung ihrer Macht. Man besiegte gegnerische Truppen, um auf diese Weise das eigene Territorium und die eigene Nahrungsbasis zu vergrößern. Es war nicht im Interesse dieser Herren von Gottes Gnaden die Nahrungsbasis selbst zu vernichten, also die achtzig bis fünfundneunzig Prozent der Nahrung erzeugenden Bauernschaft auf dem Lande. Nicht selten hatten die Bauern zwar unter gegnerischen Besatzungen furchtbar zu leiden, von ihren eigenen Herren wurden sie zudem regelmäßig bis aufs Blut ausgequetscht, aber keiner der Kriegsherren sah es auf ihre Vernichtung ab. So blieb die zivile Bevölkerungsmehrheit damals einigermaßen geschützt.

Neben den Kriegen der Fürsten, die sich zwischen Rittern oder Söldnern abspielten und im Hinblick auf die Zahl der Opfer vergleichsweise harmlos waren, gab es aber schon immer, und gibt es bis heute, die Glaubenskriege. Die christlichen Kreuzfahrer sind in Palästina knietief durch Blut gewatet, weil Muslime Heiden waren und damit von Gott ohnehin zur Hölle verdammt. Etwas später fielen die Muslime in Indien ein und haben dort noch ärger als die christlichen Kreuzfahrer gewütet. „Die muslimische Eroberung Indiens,“ so sagt es der große US-amerikanische Historiker Will Durant, „ist wahrscheinlich das blutigste Ereignis der Weltgeschichte. Es ist eine entmutigende Geschichte, weil es die offensichtliche Einsicht vermittelt, dass die Zivilisation stets gefährdet ist.“ Von Sultan Ahmad Shah ist überliefert, dass er jedes Mal drei Tage lang feierte, wenn die Zahl der an einem Tag hingeschlachteten Hindus die Marke von zwanzigtausend übertraf.

Der Krieg gegen die Ukraine war zu Anfang ein klassischer Fürstenkrieg. Ein russischer Diktator, namens Wladimir Putin, der mit Zbigniew Brzeziński, dem Verfasser des Buches „Das Große Schachspiel“ darin einer Meinung ist, dass Russland ohne die Ukraine kein Imperium mehr sei, entschied, dass dieses Land wieder unter die Herrschaft Russlands kommen müsse. Aus der Sicht Putins schien das zunächst auch ziemlich einfach zu sein. Er selbst hatte die Ukrainer zunächst noch „russische Brüder“ genannt, deren gottgegebenes historisches Schicksal darin besteht, sich der russischen Führung zu unterwerfen. Erstaunlich für Russland ebenso wie für den Rest der Welt war es dann aber, dass die Ukraine sich ihrer Einverleibung schon während der ersten Tage des Überfalls mit aller Kraft widersetzte. Das wiederum führte zu einem Sinneswandel des russischen Diktators. Aus dem Fürsten- wurde ein Glaubenskrieg – äußerlich daran erkennbar, dass aus den ukrainischen Brüdern und Schwestern nun Faschisten und Neofaschisten wurden, gegen die ein Ausrottungskrieg geführt werden darf.

Ein Glaubenskrieg ist auch der Kampf, den der Iran und seine Handlanger, Hamas und Hisbollah, gegen Israel führen. Der Iran wird von Israel nicht bedroht, er hat auch keine gemeinsamen Grenzen mit diesem Land. Die üblichen Gründe für einen Krieg sind in diesem Fall nicht vorhanden. Allerdings ist das schiitische Mullah-Regime ein Paria innerhalb der Mehrheit sunnitischer Länder. Indem es den Hass auf Israel schürte und seinen Vasallen Waffen zu dessen Vernichtung verschaffte, erzwang es sich die Anerkennung der muslimischen Welt. Diese Chance schien dann aber vertan, als Israel mit den meisten seiner muslimischen Nachbarn diplomatische Beziehungen und damit ein normales Verhältnis begründete. Um neuerlich einen Keil zwischen Israel und die islamische Welt zu treiben, hetzte der Iran daher die Hamas zu ihrem blutigen Anschlag vom 7. Oktober auf – eine Orgie hemmungsloser Brutalität. Trotz aller Härte gegen die Muslime im Westjordanland und die Übergriffe der Siedler hat das säkulare Israel niemals einen Glaubenskrieg gegen seine muslimischen Nachbarn geführt, sieht man einmal von einer Minderheit rechter Fanatiker und orthodoxer Juden ab.

Warum geht das Land Israel dennoch mit kompromissloser Härte gegen seine Angreifer vor? Warum mussten schon mehr als zehntausend Zivilisten in Gaza sterben?

Der Krieg Israels gegen seine Feinde fällt in eine besondere Kategorie. Er ist weder ein Glaubens- noch ein Fürstenkrieg, sondern hier kämpft ein hochmoderner demokratischer Zwergstaat schlicht ums Überleben. Die Genfer Konvention hat die Bombardierung von Hospitälern, Schulen und anderen zivilen Einrichtungen zu einem Kriegsverbrechen erklärt. Da Israel derartige Ziele in großem Maßstab vernichtet hat, werden zunehmend Rufe laut, Israel wegen Kriegsverbrechen zu verklagen. Die idealistischen Verfasser der Konvention haben nicht vorausgesehen, dass die Bombardierung ziviler Einrichtungen zu einem Überlebensimperativ werden kann.

Denn die Verletzung der Konvention wird dann unumgänglich, wenn der Feind zivile Einrichtungen bewusst dazu benutzt, um Raketenbasen oder eigene Kommandozentralen darin zu verstecken. Wird die eigene Bevölkerung dem feindlichen Militär bewusst als Schutzschild und Geisel preisgegeben, wer ist dann schuld, wenn ein Hospital bombardiert wird – der berechnende Geiselmacher oder der Feind, der die militärische Basis vernichtet, aber damit zugleich auch die Bevölkerung, die dabei als Schutzschild missbraucht worden ist? Wie immer man die Bestimmungen der Genfer Konvention auch drehen und wenden mag, der Missbrauch der eigenen Zivilbevölkerung durch Hamas und Hisbollah ist nicht weniger unmenschlich als die durch den Gegner eben dadurch erzwungene Auslöschung unschuldiger Frauen und Kinder.

Fürstenkriege sind in unserer Zeit selten geworden, sieht man von dem neuen Zaren Wladimir Putin ab, der sich weiterhin bemüht, die ehemaligen sowjetischen Vasallenländer, die inzwischen zu selbständigen Staaten wurden, mit einer Vielzahl von Verträgen allmählich wieder unter das russische Joch zu zwingen (weil der Zusammenbruch der Sowjetunion aus seiner Sicht „die größte Katastrophe der zwanzigsten Jahrhunderts“ war). In demokratischen Staaten liegt die Macht nicht länger bei einem Zar oder Herrscher von Gottes Gnaden, sondern bei den gewählten Vertretern des Volks. Der seit der industriellen Revolution aufkommende Nationalismus musste aus dem früheren Krieg der Fürsten daher einen Krieg der Völker machen, der dann die typische Färbung von Glaubenskriegen besitzt. In den Augen ihrer jeweiligen ideologischen Feinde wird gegnerischen Nationen seitdem pauschal ein Brandmal aufgeprägt: Sie sind unwerte Rassen, Faschisten, Kommunisten, Juden oder eine andere Art von Untermenschen.

Warum kommt es überhaupt zu Kriegen? Wären sie nicht grundsätzlich zu vermeiden? Brave deutsche Friedensforscher pflegen dazu eine feste Meinung zu vertreten. Man müsse nur immer im Gespräch miteinander bleiben! Interessant ist es in diesem Zusammenhang, dass die gleiche Botschaft auch aus Peking zu uns kommt. Durch Verhandlungen, sagen uns die Chinesen, ließen sich alle Probleme lösen. Leider ist das der Gipfel der Heuchelei, denn Peking besteht zur gleichen Zeit auf roten Linien, die prinzipiell kein Gegenstand von Verhandlungen sind. Über Tibet, über Xin Jiang, über Taiwan und über die vollständige Souveränität Pekings im südchinesischen Meer – darüber könne es keine Gespräche geben. Die braven deutschen Friedensforscher haben leider einen Punkt außer Acht gelassen, der aber der wichtigste ist, nämlich dass der Beginn eines Krieges regelmäßig darin besteht, dass alles Reden und Verhandeln kategorisch abgelehnt wird.

Glaubenskriege werden nicht durch Gespräche beendet, sondern durch eindeutige Siege oder die Erschöpfung der Gegner. Vorerst ist Putin an Gesprächen nicht interessiert, solange diese irgendwelche Zugeständnisse von seiner Seite erfordern. Stattdessen treibt er den Westen mit der Drohung eines Atomkrieges vor sich her. So wie Hitler in den Beschwichtigungsversuchen der Alliierten nur Schwäche erblickte, die seine Aggressionsbereitschaft zusätzlich steigerten, macht auch Putin sich die Angst seiner Gegner zunutze. Seit einem dreiviertel Jahrhundert hängt das Damoklesschwert des nuklearen Holocaust über dem Globus. Es wird sicher nicht durch Beschwichtigung abgewehrt, sondern allein dadurch, dass alle Parteien sich gegenseitig daran erinnern, was mit ihnen geschieht, wenn sie diese furchtbare Errungenschaft unseres scheinbar unaufhaltsamen „Fortschritts“ tatsächlich verwenden. Glücklicherweise wissen die russischen Militärs darüber genauso gut bescheid wie die amerikanischen. Der Krieg gegen die Ukraine wird weder aufgrund von Drohung noch durch Beschwichtigung oder den eindeutigen Sieg einer Seite enden, sondern eher aufgrund von Erschöpfung. Ich wünsche dem tapferen Land und seinem Präsidenten, dass westliche Hilfe am Ende zur Entkräftigung Russlands führt und zu einer Palastrevolution gegen Putin. Das ist jedoch keinesfalls sicher. In Europa bleiben die russischen Drohungen aber nicht ohne Wirkung, und der potenzielle Präsident Donald Trump hat eine ausgeprägte Schwäche für Diktatoren wie Kim Jong-un und den russischen Zar, weil er selbst so gern einer wäre.

Und wie wird der Überlebenskrieg Israels enden? Wäre er nicht überhaupt vermeidbar gewesen, hätte Israel sich rechtzeitig zu einer Zweistaatenlösung entschlossen? Und hätte nicht Netanyahu – wie es ein bedeutender Teil der israelischen Bevölkerung längst von ihm fordert – mit der Hamas einen Waffenstillstand schließen, die Geiseln befreien und ein Übergreifen der Kampfhandlungen auf den Libanon, vielleicht sogar auf den Iran, dadurch vermeiden können? Gewiss. Der Friede wäre dann für ein, zwei Jahre gesichert. Aber eben nur für eine kurze Zeit, denn, wie schon gesagt, leitet das blutige Mullah-Regime im Iran sein politisches Ansehen im islamischen Raum wesentlich von seiner Feindschaft gegen Israel ab. Einen vorzeitigen Frieden hätte das Regime dazu genutzt, um Hamas und Hisbollah in aller Stille neuerlich aufzurüsten. Der Staat Israel hätte nur eine Atempause gewonnen, aber die Gefahr für sein Überleben wächst exponentiell, wenn die Gotteskrieger des Iran demnächst eine eigene Atombombe besitzen.

Die unbeugsame Hartnäckigkeit Netanyahus hat sicher auch etwas mit seinem politischen Überleben zu tun, aber ich kann verstehen, dass dieser Mann das weitere Erstarken Irans und seiner fanatisierten Gefolgschaft um jeden Preis zu verhindern sucht. Wenn es dem israelischen Premier gelingt, die atomaren Anlagen des Iran zu vernichten – wozu er allerdings die speziellen Bunkerbrecher der Vereinigten Staaten braucht – dann darf sich Israel Ruhe erhoffen, Ruhe und Frieden zumindest für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre.

Leider werden Kriege nie durch bessere Einsicht beendet oder die gutgemeinten Ratschläge deutscher Friedensforscher, sondern in aller Regel nur durch einen eindeutigen Sieg oder gegenseitige Erschöpfung (siehe Jörn Leonhard: Über Kriege und wie man sie beendet). Der Widerstand der Hamas ist inzwischen so gut wie ausgeschaltet, die Hisbollah wurde mehrfach enthauptet und ist bereits weitgehend kampfunfähig. Es bleibt die Frage, ob es Netanyahu gelingt, auch den eigentlich kriegstreibenden Gegner, den Iran, bis zur Aufgabe zu schwächen. Der zweimalige Raketenüberfall des Iran hat ihm dazu jedenfalls die nötige Rechtfertigung verschafft.

Aber wird Israel dann den Frieden gewinnen? Das ist leider keineswegs ausgemacht. Seine Feinde haben richtig kalkuliert, als sie ihre eigene Bevölkerung opferten, um dann umso größere Empörung auf Israel zu lenken. Das Land hat sich in aller Welt verhasst gemacht. Überall flammt neuerlich der Antisemitismus auf. Juden emigrieren aus den Vereinigten Staaten und ebenso auch aus Europa; sie wandern nach Israel aus, wo sie sich trotz Raketenbeschuss immer noch sicherer fühlen. Kann und wird Israel diesem Hass entgehen?

Dazu müsste es den militärischen Sieg gegen seine Feinde in einen politischen Sieg verwandeln. Das Land müsste dieselbe Medizin anwenden wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den besiegten Deutschen. Die Amerikaner haben ihre ehemaligen Feinde mit äußerster Großzügigkeit behandelt und so in kurzer Zeit wieder Vertrauen aufgebaut. Ein länger andauernder Friede scheint überhaupt nur auf diese Art erreichbar zu sein. Gerade weil das winzige Israel seinen Feinden bisher so stark überlegen ist, würde ein nationalistisches Triumphieren oder gar eine weitere Expansion das Verhältnis zu den Nachbarländern – auch zu den Sunniten – auf Dauer vergiften.


Gero Jenner

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