Benjamin Netanyahu hat es zum sechsten Mal geschafft, Ministerpräsident Israels zu werden – mit einer für israelische Verhältnisse satten Mehrheit von 64 von 120 Stimmen. Aber der Sieg ist mehr eine Bürde für ihn, seine Koalitionsregierung, das gesamte Parlament, das Land und die tief gespaltene Gesellschaft.
Äußere Kennzeichen dieser besorgniserregenden Entwicklung: Vorgänger Lapid verweigert seinem Nachfolger Netanyahu den Handschlag. Bei der Wahl des Parlamentspräsidenten Amir Ohana – immerhin das dritthöchste Amt im Staat – drehen ihm die religiösen, ultraorthodoxen Koalitionsmitglieder den Rücken zu oder verbergen ihr Gesicht. Grund: Ohana ist bekennender Homosexueller und dankte „meinem Mann Alon“ für seine andauernde Unterstützung.
Die Regierung, die der 73-jährige Netanyahu in mühsamen knapp zwei Monaten für eine geplante Legislaturperiode von vier Jahren kunstvoll politisch geschnürt hat, stellt zumindest auf dem Papier eine dramatische Veränderung der offenen, lebensbejahenden liberalen Demokratie Israels dar. Die einzige Hoffnung: Netanyahu wird mit seiner 15-jährigen Erfahrung als Ministerpräsident seinen Koalitionären gezielt und dosiert zeigen, dass die Nahost-Realität auf die auch mit viel Schweiß ausgehandelten Abkommen zwischen den fünf Parteien wenig Rücksicht nimmt.
Die Ernennung eines homosexuellen Parlamentspräsidenten in einer mit orthodoxen Rabbinern gespickten Regierung könnte ein erstes deutliches Anzeichen dafür sein, dass das bekannte Spiel „teile und herrsche“ bereits begonnen hat. In der Regierung sitzen eine ganze Reihe junger Erstlings-Minister, die so manche Kröte schlucken werden, bevor sie ihr Amt und die damit verbundenen Boni aufgeben werden. Netanyahu nutzt die politische Ranküne auch zur Verschleppung seines eigenen Gerichtsverfahrens wegen Korruption, das sich bereits im vierten Jahr befindet.
Vor diesem Hintergrund verblassen die durchaus beunruhigenden Ankündigungen der plus-vierzigjährigen Heisssporne, wie Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, die zum ersten Mal ihre Machtphantasien ausleben wollen. Oder die bärtigen Schwarzhutträger wie Avi Maoz und Itzchak Grossknopf, die jetzt glauben, die Weltanschauung der 3000 Jahre alten Thora in einer erfolgreichen Start-up-Nation 100-prozentig umsetzen zu können. Dabei unterschätzen sie die Kampfbereitschaft der Säkularen im Wirtschaftszentrum Tel Aviv, die Macht der gutorganisierten Ex-Diplomaten, der pensionierten, aber noch tatkräftigen Offiziere der Israel Defence Forces (IDF), der erfahrenen Richter, der kritischen Presse und der Wirtschaftskapitäne, die die Dollars verdienen, die die neue Regierung mit vollen Händen ausgeben will.
Niemand weiß es besser als Netanyahu, dass gegen die Mehrheit des Volkes und gegen die Proteste der jüdischen Gemeinden in den USA und Europa sicherlich nicht vier Jahre lang regiert werden kann. Seine Koalitionäre werden es lernen müssen. Andernfalls wird eintreten, was der abgewählte Lapid auf einem Zettel auf dem Schreibtisch des Ministerpräsidenten hinterlassen hat: „Wir sehen uns wieder 2024“.
Da gehen gute Nachrichten, die vorwiegend aus den arabischen Staaten kommen, die mit Israel seit gut zwei Jahren diplomatische Beziehungen pflegen, fast unter: Das Israel Philharmonic Orchester ist erstmals in UAE mit offenen Armen empfangen worden – zuletzt musizierten sie 1936 in einem arabischen Land, in Kairo. Damals gab es aber noch kein Israel. Und der ADQ-Fonds aus Abu Dhabi ist drauf und dran, 650 Millionen US-Dollar in Israels größte Versicherung „Phoenix“ zu investieren. Da glauben einstige Feinde Tausende Kilometer entfernt mehr an die Zukunft Israels als viele in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa.
Dafür sprechen im ausklingenden Jahr 2022 Israels Exportzahlen, die durchaus imponieren: Waren und Dienstleistungen im Wert von 160 Milliarden US-Dollar, 10 Prozent mehr als im Vorjahr. Software – vor allem Sicherheits-Software – macht 42 Prozent, Forschung und Entwicklung 14 Prozent des Exports aus. Zahlen, die Israels nachhaltigen Erfolg unterstreichen. In einer Zeit, in der weltweit eine Rezession droht oder teilweise schon zu spüren ist. Ein Erfolg, dem sich niemand entziehen kann. Auch nicht die neuen vermeintlichen Besserwisser in Netanyahus neugestarteter Regierung.