Da gibt es nichts zu deuteln. Israel hat hat sich nach der Abstimmung über den ersten Teil der Justizreform in eine vorerst ausweglose Lage manövriert. Die Mehrheit im Parlament versteht sich als Sieger über die Minderheit. Das hat nur noch wenig mit Demokratie zu tun. Der Euphorie wird schon bald Ernüchterung folgen. Die Börse zeigt dem Land ein dickes Minuszeichen, Washington ist „unhappy“ und auf den Barrikaden steht nicht nur die Strasse, sondern dort halten vor allem die gebildeten Leistungsträger die blau-weisse Fahne hoch.
Die Justizreform ist nur der äussere Anlass. Die sechste Regierung Netanyahu, die im November 2022 bei der fünften demokratischen Wahl in weniger als vier Jahren die Mehrheit gewonnen hat, will die ganze Macht. Sie wird nur von kurzer Dauer sein. Aber die Zeit reicht für einige Abrechnungen.
- Dafür, dass die Ashkenazim (Juden aus Europa) den Sefardim und Mizrahim (Juden aus Nordafrika) 75 Jahre nur Brotsamen hingeworfen haben. Dafür, dass die neuen Pioniere von Judäa und Samaria den höchsten Blutzoll zahlen, während in Tel Aviv die LGBTQ-Gemeinde tanzt.
- Dafür, dass die Ultra-Orthodoxen von den Säkularen – wenn auch mit Milliarden – als Almosen-Empfänger erniedrigt werden.
- Dafür, dass die neuen Pioniere, die auf den Hügeln von Judäa und Samaria sitzen, nicht die ihnen zustehende Anerkennung bekommen.
Netanyahus Mehrheitsbeschaffer pfeifen auf die Start-up-Nation und zeigen auch dem großen Bruder in Washington den Stinkefinger. Sie haben sich in eine Zurück-zu-den-Wurzeln-Stimmung marihuanisiert und fuchteln mit der Bibel herum, die ihnen einen vermeintlichen Auftrag für ein neues, altes Eretz Israel (Gross-Israel) gibt.
Diese Phase wird nicht viel länger anhalten als die Qualität der Selfies, die sie im Parlament nach der Abstimmung als Trophäe für ihre Anhänger zu Hause geknipst haben. Der Preis wird hoch sein, das zeichnet sich schon nach 29 Demonstrationswochen ab. Die Wirtschaft, ohnehin weltweit im Abschwung, geht in Israel in den freien Fall über. Die Sicherheit nimmt ab, die Feinde sind in ihrer Brutalität motivierter. Soziale Konflikte nehmen durch wachsende Arbeitslosigkeit zu. Wer kann, nimmt sich eine Auszeit im Ausland. Rückkehr ungewiss.
Historiker und Journalisten werden bald Bücher schreiben und die Schuld an der Misere verteilen: in Tel Aviv wurde zuviel getanzt, anstatt zur Wahl zur gehen. Die Mauern zwischen Israels vier großen gesellschaftlichen Gruppen, Säkulare, Orthodoxe, National-Religiöse und Araber sind zu hoch. Wirtschafts-Wachstum allein reicht als Brücke auf Dauer nicht aus. Abnehmende Investitionen, Inflation und steigende Hypotheken-Zinsen ermüden jene im Hamsterrad des Alltags. Die oberste Lehre wird immer zu spät erkannt: Krisen stellen an ihre Opfer keine Fragen.
Die von allen Seiten oft zitierte jüdische Thora, die Bibel, erzählt die Geschichte vom Verkauf Josephs durch seine Brüder an die Feinde Israels. Thomas Mann hat sich 16 Jahre lang in vier Bänden daran abgearbeitet, ohne eine Antwort zu finden auf die Motivation, die zur schändlichen Tat führte und mit Versöhnung endet. Wo liegt der Weg zur Versöhnung in Israel heute?
Die Ironie: Die Ashkenazim haben den Sefardim und Mizrahim bei der Ausgestaltung der aktuellen Abrechnung die Hand gereicht. Den Namen des Ashkenazi kennen alle: Benyamin Netanyahu. Der dienstälteste Ministerpräsident Israels hat viel für sein junges Land geleistet. In seiner 13jährigen Ära gedieh das Land zu einem der reichsten. Es verstand sich erfolgreich gegen eine Übermacht zu verteidigen, Energie für mindestens die nächsten zwei Generationen zu bezahlbaren Preisen zu sichern und niemand ins Land zu lassen, der dort nicht hingehört. Davon können EU-Länder nur träumen.
Aber am Ende wird er auch als Zerstörer in die Geschichte eingehen. Von seinem alten Kumpanen aus militärischen Kampftagen Ehud Barak – einst auch Ministerpräsident – hätte er lernen können, rechtzeitig auszusteigen. Seine Egomanie und der Staatsanwalt haben ihn den Weg zum Ausgang nicht erkennen lassen. Im 74. Lebensjahr rebelliert sein Herz. In der Branche, in der er sich bewegt, darf man keine Schwäche zeigen. Politik in diesen Sphären kennt kein Mitleid und die passenden Schrittmacher zum Überleben sind dafür noch nicht erfunden.