Beim Pessach-Abendessen stellen Juden seit 2500 Jahren die Frage: Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? Die Antwort bei traditionellen vier Glas Wein: Gott hat das jüdische Volk nach 230 Jahren aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit geführt. Deshalb heißt das Pessachfest auch Fest der Freiheit.
Was unterscheidet die Terrorwelle 2023 in Israel von allen anderen Terrorwellen? Der Hass verbreitende Iran und seine Satrapen in Beirut, Damaskus, Gaza und im Westjordanland glauben, Israel sei jetzt zum Abschuss freigegeben, weil das Land im Innersten zutiefst zerstritten ist. Seit Wochen gehen jeden Samstagabend Hundertausende auf die Straße. Sie protestieren gegen einen geplanten Reformversuch der Regierung, die die Kontrollmacht der Gerichtsbarkeit, eine der drei Säulen einer Demokratie, stark einschränken will. Dabei handelt es sich um eine oberflächliche Begründung. Die Ursachen liegen tiefer.
1967 kam der berühmte Sechs-Tage-Krieg, bei dem sich Israel gegen eine arabische Übermacht erfolgreich verteidigte und seither 5860 Quadratkilometer zwischen Grüner Grenze und dem Jordanfluss mit militärischer Souveränität beherrscht, beherrschen muss. Andernfalls ist Israel, vor allem sein Küstenstreifen von Naharia bis Ashkelon mit dem Zentrum Tel Aviv, nicht zu sichern. Dort leben zwei Drittel der Bevölkerung. Im Westjordanland lebten vor 1967 keine Israeli, heute haben dort eine halbe Million ihren Lebensmittelpunkt. Sie verstehen sich als die wahren Israeli, verteidigen die Gräber ihrer Altvorderen Abraham, Isaak, Sara und Stammvater Joseph, an dem sich Thomas Mann literarisch 16 Jahre abgearbeitet hat. Die Sefarden zahlen im Terrorkampf den höchsten Blutzoll und fühlen sich von den Ashkenasen verlassen, oft auch dominiert.
Jetzt wollen sie die Gelegenheit beim Schopf packen: Die Ashkenasen sind heillos zerstritten. Ex-Ministerpräsident Yair Lapid, Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz und der Chef der Russischstämmigen, Avigdor Lieberman, lehnen eine Koalition mit einem angeklagten Netanyahu kategorisch ab. Im Lager der Ashkenasen hat der Ashkenase Netanyahu immer weniger Freunde. Der Machtgierige streckte als Chef der größten Partei seine Hand nach der Wahl am 1. November 2022 nach rechts zu den National-Religiösen aus, die sofort zugepackt haben. Unterstützt durch zwei ultra-orthodoxe Parteien, die ohnehin nur daran interessiert sind, ausreichend Finanzmittel für das Leben rund um ihre Religionsschulen zu bekommen, krallen sie sich die demokratische Mehrheit im Parlament.
Zwei Polit-Figuren der Nationalen Zionisten, Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, die in jedem Django-Film eine führende Rolle spielen könnten, sind plötzlich Finanz- beziehungsweise Sicherheits-Minister und wollen dem Kernland Israel ihre araber-feindliche Weltanschauung aufzwingen. Beide haben eine juristische Ausbildung, sind aber von der lebensfrohen, weltoffenen westlichen Tel-Aviv-Kultur Lichtjahre entfernt.
Ganz nebenbei planen sie deshalb eine eigene 1800-Mann starke bewaffnete Spezial-Einheit, wollen die jüdischen Einwanderungsbedingungen drastisch verschärfen und erklären der schwulen und lesbischen LGBTQ-Gemeinde den Krieg. Diese politischen Einstellungen und Absichten belasten die Beziehungen zwischen Israel und den nicht unwichtigen jüdischen Gemeinden in den USA und Europa. Zwar widerspricht Netanyahu noch hie und da gespielt kraftvoll. Aber aufgrund der Fakten- und Stimmungslage ist zu erkennen: Netanyahu ist eine lame duck, eine lahme Ente. Das Ergebnis seiner Fehleinschätzung Nummer zwei.
All das geschieht gerade in einem Land, das bei seinem 75. Wiedergründungsfest im Mai Feuerwerke der Freude abbrennen und die Champagner-Korken knallen lassen könnte. Und zwar durchaus verdient. Israel gehört aufgrund der Leistung dreier Generationen – Ashkenasen, Sefardim und Araber – pro-kopf-gerechnet auch laut IMF (Internationaler Währungsfonds) – zu den reichsten demokratisch-robusten Ländern der Welt. Die Start-up-Nation hat mit die am besten ausgebildete Bevölkerung an international führenden Universitäten, hat die notorische Trinkwasser-Knappheit für die ganze Region umweltfreundlich gelöst und den Energiemangel durch Erdgasfunde auf Jahrzehnte behoben.
Wie aber schaut die aktuelle Realität aus Sicht der muslimischen Extremisten aus? Ermuntert durch die zerstrittene Gesellschaft verkündet die Terror-Organisation Hizbollah in Beirut: Israel werde schneller als erwartet von der Landkarte verschwinden. Raketen aus Syrien, Libanon und Gaza fliegen am Pessach-, Ostern- und Ramadan-Wochenende im Dutzend in Richtung Israel. Am Karfreitag sterben bei zwei Terroranschlägen in Judäa – besser bekannt als Westjordanland – und auf der Strandpromenade in Tel Aviv drei junge Menschen, acht werden verletzt. Die Terror-Organisation Hamas übernimmt die Verantwortung. Orchestriert sind die kriegerischen Handlungen an mehreren Fronten offensichtlich von Teheran. Die Mullahs wollen Israels Verteidigungswillen testen. Einen Vorgeschmack haben sie durch Bombardements in Gaza und im Südlibanon erhalten. Gegen Syrien kamen Kampfdrohnen zum Einsatz.
In Israel wächst die Sorge eines Drei-Fronten-Krieges, den Netanyahu vermeiden will, wie er auch öffentlich erklärt hat. Denn im Landesinneren gibt es zwei weitere Schauplätze des Streits, die den Einsatz von Sicherheitskräften erforderlich machen. In der Al-Aqsa-Moschee in der Altstadt Jerusalems verbarrikadieren sich Muslime provozierend und in Tel Aviv demonstrieren Israeli gegen die Gerichtsreform der Regierung Netanyahu. Ob aus dieser gewalttätigen Gemengelage mehr wird als das Ramadan-übliche Scharmützel, wissen nur die Propheten der beiden Religionen. Sicher sind zwei Dinge: Die Welt braucht in diesen Tagen keinen weiteren kriegerischen Brandherd und Israel wird als jüdischer Staat weiterhin gedeihen. Darin sind sich Regierung und Opposition, Ashkenasen, Sefarden und stillschweigend auch die Mehrheit der arabischen Bürger Israels bei aller Zerstrittenheit einig.