Tichys Einblick
Zeitenwende auch in Israel?

Gegner eines fröhlichen Israels vor Machtübernahme

Netanyahu will mit seiner neuen Regierung versuchen, aus einer lebenswerten Demokratie eine Theokratie zu machen, ein Gottesstaat ist also angesagt. Zudem soll die Politik Gerichtsurteile überstimmen können. Das alles will die Mehrheit in Israel nicht. Die Opposition hat sich bereits quer durch die Gesellschaft aufgestellt.

Benjamin Netanyahu erhält vom israelischen Präsidenten Isaac Herzog am 13. November 2022 das Mandat, eine neue Regierung zu bilden

IMAGO / Xinhua

Nicht nur Europa und Deutschland erleben derzeit eine Zeitenwende. Auch Israel. Netanyahus sechste Regierung nach der fünften Wahl in weniger als vier Jahren versucht gerade, eine lebenswerte Demokratie, in der Dutzende von bunten Kulturen und die drei großen monotheistischen Religionen trotz Krieg und Terror einen Platz an der Sonne gefunden haben, grundlegend zu verändern: Theokratie, also ein versuchter Gottesstaat ist angesagt und die Politik soll Gerichtsurteile überstimmen können. Das alles will die Mehrheit in Israel ganz sicher nicht, weil demokratiefeindlich. Leider haben Gegner eines fröhlichen Israels seit 1. November die Mehrheit im Parlament. Was tun?

Die angesagten Veränderungen sind keine Wahlkampfreden mehr oder Gerüchte. Die Träger der Mehrheit haben Koalitionsverträge unterschrieben und Etats in Millionenhöhe bereits offiziell verteilt. Rechts steht die Unterschrift Benjamin Netanyahus, Likud-Partei-Chef und Ministerpräsident, links stehen Namen wie Arie Deri, Avi Maoz, Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich: ein Rabbiner, ein Religions-Beamter und zwei kippatragende Rechtsanwälte. Alles eigentlich anständige Berufe mit einer Weltanschauung, die in Israel weit verbreitet ist. Problem: Die Minderheit will zukünftig der Mehrheit gesetzlich vorschreiben, wie sie zu leben hat – bei Tag und bei Nacht.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Beispiel Arie Deri, Rabbiner und Vorsitzender der orthodoxen Shas-Partei, der elf von 120 Sitzen im Parlament bei der letzten Wahl gewonnen hat: Er ist wegen Korruption verurteilt, saß seine Gefängnisstrafe ab, ist seit Januar wegen Steuerhinterziehung erneut verurteilt – das Urteil ist suspendiert – und will tatsächlich Finanzminister werden. Das hat ihm Netanyahu vorerst abgeschminkt.

Stattdessen wird Smotrich Finanzminister, wenn auch nur für zwei Jahre. Der 42-jährige Vater von sieben Kindern hat sein ganzes Leben in Judäa und Samaria, besser bekannt als Westbank verbracht und hat seine Erziehung in jüdischen Religionsschulen erhalten. Woher er die Befähigung haben will, die Start-up-Nation Israel, ein erfolgreiches OECD-Land mit einem Brutto-Sozialprodukt von über 500 Milliarden US-Dollar – vergleichbar mit Österreich – finanzpolitisch zu führen, bleibt wohl vorerst sein Geheimnis.

Zweites Beispiel Avi Maoz. Der 66-jährige Vater von zehn Kindern kämpft schon seit längerer Zeit als Abgeordneter gegen alles, was mit Schwulen, Lesben, illoyalen Arabern und aus den GUS-Staaten eingewanderten Juden zu tun hat. Letztere hält er großteils für Nichtjuden und will die Einwanderungsgesetze entsprechend verschärfen. Für Israel wäre das eine mittlere Katastrophe. Die Erfolgsgeschichte der Start-up-Nation ist ohne den intellektuellen Zustrom aus den GUS-Staaten nicht zu erklären. Seine abstruse Weltanschauung will Avi Maoz auch in die Schulen hineintragen.

Bisher am Rande des politischen Spektrums, wird er ab Beginn der Regierung Netanyahu im Rang eines stellvertretenden Ministers im Amt des Ministerpräsidenten mit einem 29-Millionen-US-Dollar-Haushalt und mit der Macht der Exekutive politisch zu werkeln beginnen. Netanyahu hat zwar öffentlich im amerikanischen NBC-Fernsehen versichert, dass die Rechte der LGBT-Gemeinde in Israel unberührt bleiben. Aber warum bitte belohnt er einen Politiker, der eine derartige Vita aufweist mit einem hohen Amt in seiner Regierung?

„Zum Kavaliersdelikt geworden“
Israelischer Botschafter kritisiert linken Antisemitismus in Deutschland
Und dann gibt es noch Itamar Ben Gvir: Seine Partei der „Gläubigen Zionisten“ ist von sechs auf 14 Mandate gewachsen. Entsprechend großspurig ist sein Auftreten. Der 46-Jährige fuchtelt bei verschiedenen Anlässen gerne mit seiner Pistole herum. Damit will er den Terroristen und ihren Anhängern zeigen, wer Herr im Haus (Westbank) ist. Seine Frau, Mutter von 5 Kindern, lässt sich sogar mit zwei Handfeuerwaffen im Hüftgürtel fotografieren und begründet das lächelnd in den TV-Abend-Nachrichten mit der wachsenden Bedrohung in der Westbank. Sie verliert auch nicht ihr Lächeln, als der Interviewer sie fragt, ob sie sich an „Cowboys“ orientiere. Ihr Ehemann, der polizeibekannt ist und gerne damit prahlt, dass er schon 53-mal angeklagt war, soll jetzt Sicherheitsminister und damit Chef der Polizei mit ausgeweiteten Zuständigkeiten werden.

Bei der täglichen Zeitungslektüre vermutet man sich im falschen Film, aber die Fakten sind unbestritten. Welche Teufel reitet dieses Land wenige Monate vor dem 75. Gründungs-Jubiläum? Die Opposition hat sich bereits quer durch die Gesellschaft breit aufgestellt. Nicht nur die beiden letzten Ministerpräsidenten Lapid und Bennett mit ihren Kabinettsmitgliedern stehen verbal auf den Barrikaden. Auch 50 Bürgermeister, allen voran der Tel Aviver, der offen vor einer Theokratie warnt und um sein alljährliches LGBT-Festival mit über 100.000 tanzenden, gutgelaunten Halb-Nackten aus aller Welt bangt.

Selbst der 84-jährige emeritierte Jura-Professor der Harvard-Law-School, ein eingefleischter Netanyahu-Anhänger und Verteidiger Israels in vielen internationalen gerichtlichen Auseinandersetzungen, spricht von einem „schrecklichen, schrecklichen Fehler“, wenn das Parlament mit einfacher Mehrheit die Möglichkeit bekommen sollte, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in Jerusalem zu überstimmen.

Der russisch-stämmige-Noch-Finanzminister Avigdor Libermann ruft in einem offenen Brief an die wichtigsten jüdischen Organisationen in den USA um Hilfe. Die designierte Regierung Netanyahu stehe an der Spitze eines „Staates der Finsternis“ und „zerstöre das zionistische, liberale Israel“, verkündet er. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des jungen Judenstaates.

Demonstrationen in China – und hier?
Sieh, die Guten demonstrieren so fern
Was sind dann die Ursachen für die Zeitenwende in Israel? US-Außenminister Blinken versucht die Dinge diplomatisch-cool herunterzuspielen. „Wir beurteilen die nächste Regierung nach ihrer Politik und nicht nach ihren Politikern.“ Die Gründe sind vielseitig und reichen weit zurück. Israel erlebt seit April eine dramatische arabische Gewaltwelle mit fast täglichen Terroranschlägen, die zahlreiche Opfer fordern – auf beiden Seiten: über 30 Israeli und über 150 extremistische Araber.

Die Terrorwelle ist Ausdruck der Hoffnungs- und Hilflosigkeit der vier Millionen palästinensischen Araber in der Westbank und in Gaza. Das reicht 30 Jahre zurück zu den „Friedensverhandlungen von Oslo“, die Arafat und seinen Nachfolgern Glauben geschenkt haben, dass eine Zwei-Staaten-Lösung zeitnah möglich ist. Heute muss man kein Nahost-Kenner sein, um zu verstehen, dass diese Lösung immer eine Fata Morgana war. All jene, die davon heute noch mit gespielter Überzeugung reden, fürchten eine Gewaltexplosion, wenn die Idee offiziell auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wird.

Auch Netanyahu weiß das und versucht mit den Radikalen und Orthodoxen in Israel, neue Fakten zu schaffen. Seine eigentlichen Partner sitzen aber in der zukünftigen Opposition. Das sind die beiden Ex-Ministerpräsidenten Bennett und Lapid: Der eine war sein Bürochef, der andere Finanzminister in seinem letzten Kabinett. Sein nächster betont emotionaler Widersacher Avigdor Libermann ist auch ein ehemaliger Bürochef. Die Liste der Ex-Netanyahu-Vertrauten, die beidseitig das Tischtuch zerschnitten haben, könnte fortgesetzt werden. Tatsache ist, dass der neue Alte in seinem Umfeld auch mit Unterstützung seiner Frau Sara in den letzten 12 Jahren immer wieder ein Trümmerfeld hinterlassen hat, in dem nur Misstrauen und persönliche Ablehnung gedeihen.

Iran und China
Und sie bewegen sich doch – die Machthaber, wenn das Volk genug protestiert
Die überwiegende Mehrheit der säkularen und traditionsverbundenen Wähler hatte im Umfeld der Wahlen am 1. November gehofft, dass Netanyahu als Parteichef abgelöst wird und damit der Weg frei werde für eine Versöhnung mit den Parteien von Bennett, Lapid, Libermann und Noch-Verteidigungsminister Gantz. Das wäre eine staatstragende Koalition der nationalen Einheit, die für eine gesunde Zukunft Israels so notwendig wäre. Der 73-jährige Netanyahu hat sich aber wieder einmal als gerissener Taktiker mit einem untrüglichen Instinkt für Macht durchgesetzt. Israel bleibt vorerst BIBI-LAND. In der Likud-Partei stecken die Fäuste tief in der Tasche. Auch deshalb, weil Netanyahu die aktuellen Verhandlungen alleine – Aktenträger ausgenommen – geführt hat. 31 Likud-Abgeordnete warten, was für sie übrigbleibt, nachdem die radikalen und orthodoxen Koalitionspartner zufrieden gestellt werden. Posten und Pöstchen, die Einkommen, Dienstautos und Ansehen bringen, locken noch immer und lassen parteiinterne Kritik nur anonym aufkommen.

Wie verquer die Gesamtlage in der Region sein kann, erkennt man an den Äußerungen des Außenministers von Bahrein, Abdul Latef Al Zayani, der anlässlich des ersten Besuchs eines israelischen Staatspräsidenten, Itzchak Herzog, seine Freude über den Wahlsieg Netanyahus zum Ausdruck bringt. Er lobt Netanyahu „als Mann des Friedens und freue sich auf eine Zusammenarbeit“. Worte, die man in Israel derzeit allenfalls hinter vorgehaltener Hand hört. Dass Herzog in den ehemaligen arabischen Feindstaaten – Bahrein und VAE – so warmherzig empfangen wird, hat wesentlich mit den von Netanyahu (und Ex-US-Präsident Donald Trump) ausgehandelten Abraham Accords im Jahr 2020 zu tun.

Tragödien und Erfolge liegen in der Nahost-Region stets eng beieinander. Widersprüche der extremen Art sind Teil des Alltags. Und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Die Hoffnung, dass das derzeitige Zerrbild der israelischen Politik wieder in ordentliche Bahnen gelenkt wird. Denn bekanntlich wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Anzeige
Die mobile Version verlassen