Tichys Einblick
Netanyahu greift nach mehr Macht

Israel im Machtkampf zwischen neuer Regierung und Gerichten

Israels neue Regierung unter Benjamin Netanyahu und die Gerichtsbarkeit bekriegen sich mit Worten. Doch solange Gegner und Befürworter der Reformen ausgiebig zu Wort kommen, ist eine Demokratie à la Israel intakt.

Premierminister Benjamin Netanyahu bei einer Kabinettssitzung in Jerusalem, 08.01.2023

IMAGO / APAimages

Eigentlich müsste Israel in freudigen Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der Wiedergründung eines äußerst erfolgreichen jüdischen Staates liegen. Tatsächlich schaut es eher nach fast bürgerkriegsähnlichen Zuständen aus. Regierung und Repräsentanten der höchsten Gerichte bekriegen sich mit einem Wortschatz, wie man es so noch nie erlebt hat. Es geht um nicht weniger als die Macht im Staat. Die neu gewählte 37. Regierung, die sechste unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, will die Macht – möglichst uneingeschränkt.

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36 Regierungen gingen in den letzten 74 Jahren mit der Gerichtsbarkeit in Israel oft kontrovers und lautstark um. Aber man respektierte sich. Ausdruck dieser Umgangsformen ist die Tatsache, dass das Höchste Gericht jahrzehntelang einen juristischen Berater benennt, der an allen Kabinettssitzungen teilnimmt und auch gehört wird. Das Höchste Gericht ist übrigens eine Erfindung des Parlaments zur Kontrolle der Regierung. Damals gab es noch Bescheidenheit und die Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstzweifel. Israel kennt keine geschriebene Verfassung. Dafür hatte man bei der Gründung 1948 keine Zeit. Es herrschte vom ersten Tag an Krieg. Man musste sich verteidigen.

Auch 2023 muss sich Israel verteidigen, aber man lebt im Bewusstsein, die stärkste Militärmacht des Nahen Ostens zu sein. Das Land wird bald 10 Millionen Einwohner haben und wirtschaftlich geht es Israel blendend. Besser als den meisten OECD-Ländern, also den hochentwickelten, demokratisch geführten Staaten weltweit. Das Wirtschaftswachstum ist höher und die Inflation niedriger. Außerdem fließen Milliarden US-Dollar aus den sprudelnden Gasquellen draußen im Meer. Das lädt zu Überheblichkeit ein und richtet den Blick mehr auf die Muskeln als auf den Intellekt. Schlimmer noch, man vergisst die eigene Geschichte, die in Dutzenden von Bibliotheken und Museen in Israel nachzulesen und digital medienfreundlich zu begutachten ist. Eine Geschichte, die davon erzählt, dass der innere Feind, der Bruderkrieg, allzu oft schlimmeren Schaden anrichtet als der äußere.

Die Wahl am 1. November 2022 war zweifellos demokratisch. Aber sie spülte Politiker an die Macht, gewählt vom Volk, gegen die das Volk, unterstützt von aktiven und pensionierten, führenden Repräsentanten der höchsten Gerichte sowie Generälen der Israelischen Verteidigungsarmee geradezu Sturm läuft. Benjamin Netanyahu ist der demokratisch gewählte Ministerpräsident, aber seit vier Jahren sitzt ihm die Staatsanwaltschaft im Genick. Es geht um Betrug, Untreue und Bestechlichkeit. Es gilt natürlich die Unschuldsvermutung.

Arie Deri, gerade vereidigter Minister des Innern und gleichzeitig Gesundheitsminister, ist auch demokratisch gewählt. Aber im Lebenslauf des Rabbiners steht: drei Mal verurteilt wegen Korruption und Steuerhinterziehung, zuletzt im Januar 2022. Die letzte Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, weil er zusagte, sich aus der aktiven Politik zurückzuziehen. Er hat es sich anders überlegt. In zwei Jahren soll er ins Finanzministerium wechseln.

Und dann gibt es noch Itamar Ben Gvir, Minister für Innere Sicherheit mit erweiterter Zuständigkeit für die Polizei. Auch er ist demokratisch gewählt. Seine Wähler hat er unter anderem damit beeindruckt, dass er unüberhörbar erzählt, dass er schon 53-mal angeklagt war, auch wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt.

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Diese Führungsriege hat sich jetzt aufgemacht, die Demokratie zu verbessern, wie Justizminister Yariv Levin bei der Vorstellung seiner Reform beteuerte. Hauptziel: Die Mehrheit des Parlaments, also die Regierungsparteien, soll jede Entscheidung des Höchsten Gerichts überstimmen können. Eine fundamentale Kontrollfunktion zum Schutz von Minderheiten und Bürgerrechten wird damit ausgehebelt. Das ist die schlechte Nachricht, gegen die zigtausende Bürger in Tel Aviv, Jerusalem und Beer Sheva, drei große Universitätsstädte, auf die Straße gehen.

Die gute Nachricht: Es ist noch nichts in Gesetzesform gegossen. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Israels Geschichte hat schon größere Bedrohungen überlebt als die Führungsriege Netanyahu-Deri-Ben Gvir, unterstützt durch Orthodoxe, deren Sinn für die Realität per se eingeschränkt ist. Vor dem Hintergrund der 3000 bis 4000-jährigen jüdischen Geschichte haben sie einen anderen Zeitbegriff und erwarten den Messias „ototot“, was frei übersetzt heißt: „lieber heute als morgen“.

Das bedeutet natürlich nicht, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt. Aber wer in einem Land lebt, auf dessen Bevölkerung Tausende von Raketen gerichtet sind, mit dem erklärten Ziel, den Staat von der Landkarte zu tilgen, buchstabiert Sorgen anders, als man es in Berlin, London und Paris tut. Vor allem, wenn die Gefahr, dass diese Raketen morgen gezündet werden können, weder die UN noch die EU besonders beunruhigt.

Wer in einem Land lebt, das null Komma irgendwas Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, aber von den Vereinten Nationen öfters verurteilt wird als alle Schurkenstaaten wie Iran, Nordkorea, Russland, Lybien, Afghanistan zusammen, der definiert Demokratie nun mal völlig anders. Und das mit Recht. Solange öffentlich, auch in den Medien gestritten wird, Gegner und Befürworter der Reformen ausgiebig zu Wort kommen, ist eine Demokratie à la Israel intakt.

Wettbüros sind in Israel weitgehend verboten. Könnte man auf Neuwahlen in einem Jahr setzen – das wären dann die sechsten in fünf Jahren –, stünden die Gewinnchancen nicht schlecht.

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